Einunddreißig

690 186 20
                                    

„Seit wann arbeitest du dort?", fragte sie, während er ihr Gesicht immer noch zur Seite gedreht hatte. Sie schloss die Augen, als er das Haar aus ihrer Wunde strich. Es war schwer zu beurteilen, ob seine Berührungen angenehm oder schmerzhaft waren. Möglicherweise waren sie es beides. Zugleich. Spürbar übertrug sich erneut seine Körperwärme auf sie. Offenbar schien er nicht einmal im Ansatz zu frieren, sie hingegen war völlig durchgefroren. Immer noch konnte sie seinen angenehmen Duft riechen, mittlerweile war er ihr vertraut. Als sie sich das letzte Mal so nah standen, war das nicht ohne Folgen geblieben. Bei dem Gedanken an die vergangene Nacht wurde ihr augenblicklich wärmer. Sie genoss seine Nähe und die Erinnerung an das, was zwischen ihnen passiert war. Und wie es passiert war. Sie genoss seine gesamte Anwesenheit, was sicherlich nicht nur an der Wärme lag, die er ausstrahlte. Er faszinierte sie. Sein Charme und sein Humor, aber vor allem seine Wut und seine Zerrissenheit. Seine Kraft. Sie wollte alles von ihm wissen. Und eigentlich wollte sie nicht nur das. Nervös schluckte sie ihre Gedanken herunter.

„Seit etwa einem halben Jahr", antwortete er dann. Er klang konzentriert, offenbar beschäftigte er sich immer noch mit ihrer Kopfverletzung.

„Wie kann es sein, dass sie so mit dir umgehen? So...respektlos?" Als er die Hand schließlich von ihrem Gesicht nahm, drehte sie es wieder in seine Richtung. Er sah an ihr vorbei, auf irgendeinen Punkt hinter ihr. Wieso ließ er so mit sich umgehen? Wohin waren seine Wut und sein Stolz verschwunden? Was war mit dem schnell fahrenden, wütenden Jacob? Mit dem kämpfenden Jacob? Er musste dringend aus der Agentur raus. Sie würden ihn zerstören. Ihre Kälte, Arroganz, ihre Gewalt, ihr gesamtes Auftreten würden ihn zerstören.

„Jake, hast du eigentlich gehört, wie sie mit dir gesprochen haben? Wie kann es sein, dass du dich so behandeln lässt, welche Unsummen an Geld zahlen sie dir, dass du all das mit dir machen lässt? Die Art und der Ton, wie dieser Kerl gesprochen hat, er hat dir sogar mit dem Tod gedroht, hast du das wahrgenommen?" Hatte er das wahrgenommen? Er starrte immer noch auf einen Punkt hinter ihr, ohne dass sich irgendetwas in seinem Gesicht regte.

„Du musst aus dieser Agentur aussteigen, Jacob, hörst du mich? Was hier passiert, ist nicht in Ordnung. Sie dürfen uns hier nicht irgendwo festhalten, keiner von ihnen darf dich oder mich schlagen. Du musst mir nur ihre Namen geben und dann werde ich Anzeige erstatten, sobald wir hier raus sind. Und dann holen wir dich aus diesem Business raus und du suchst dir einen neuen Job, kein Geld der Welt ist das hier wert. Ich helfe dir, ich verspreche es." Erst jetzt bemerkte sie, dass sie seine Handgelenke gegriffen hatte. Sie appellierte an seinen Verstand. An seine Vernunft. Wieso reagierte er nicht? Wieso gelang es ihr nicht, ihn aufzurütteln? Wach auf, Jacob! Bitte! Immer noch starrte er an ihr vorbei. Sie schluckte. Hörte er sie überhaupt?

„Woher wusste er, wie nah wir uns waren? Wie konnte er wissen, dass wir die Nacht miteinander verbracht haben? Was geht es ihn an? Wieso kennt er solche Details, wo ich bis vor einiger Zeit kaum etwas von dir wusste, nicht einmal was du machst, wo du lebst oder dass du überhaupt single bist?" Mittlerweile sprach die Verzweiflung selbst aus ihr. Sie verstärkte den Griff um seine Handgelenke. Erst jetzt hatte er seine tiefbraunen Augen wieder auf sie gerichtet. Er beobachtete sie eingehend.

„Wer sagt dir, dass ich single bin? Du weißt nichts über mich. Rein gar nichts", sagte er monoton. Es klang eiskalt. Einen Moment starrte sie ihn nur an. Wie bitte? Dann ließ sie seine Handgelenke los. Das konnte er nicht gesagt haben. Irgendwo in ihrem Körper zog es vor Schmerz, aber sicher war nicht nur die Kopfverletzung dafür verantwortlich. Sie spürte nur noch ein dumpfes Pochen im Schädel. Er hatte die ganze Zeit nur ein Spiel gespielt. Es war bedeutungslos, nicht mehr als Ablenkung oder Dampfablassen. Sie war bedeutungslos. Dann dachte sie an Dominic. Und an all den Schmerz, den sie ertragen musste. Er hatte ein anderes Mädchen ihr vorgezogen. Irgendein Mädchen, das ihm womöglich nicht einmal etwas bedeutete. Irgendeine, die ihm einen Kick bereitete, etwas Neues. Irgendeine, die ihn angehimmelt hatte, die ihn bestätigte und die damit eine Beziehung zerstört hatte. Die alles zerstört hatte. Jetzt war Louisa irgendeine. Großer Gott.

Wie konnte sie so blind gewesen sein? Es ging ihm nie um mehr als eine momentane Bestätigung. Er wollte nicht mehr als das Vergnügen mit einem Mädchen, das ihn auf unerklärliche Weise bewunderte. Das sich auf ihn einlassen würde. Deshalb hatte er wahrscheinlich auch einfach davon erzählt, nur deshalb konnten die Männer Bescheid wissen. Er hatte es geteilt. Nicht die Vertrautheit und Intimität standen für ihn im Vordergrund, sondern die Tatsache, dass er es geschafft hatte, mit ihr zu schlafen. Vermutlich nur aus geschäftlichen Gründen. Wahrscheinlich hatte er kalkuliert, dass sie in die Agentur fahren würde, wahrscheinlich war alles... inszeniert. Wie hatte er sie so benutzen können? Und dabei vermutlich ein anderes Mädchen hintergehen? Entsetzt sah sie immer noch in sein Gesicht. Dann holte sie aus und ohrfeigte ihn. Das war für alle Mädchen. Erschrocken rieb er sich über die Wange. Damit hatte er wohl keine Sekunde gerechnet. Schon besser.

„Louisa, ich-" Halt deine Klappe. Noch bevor er den Satz beenden konnte, ohrfeigte sie ihn ein weiteres Mal. Und das für alle Mädchen, die schon einmal hintergangen wurden. Jetzt trat er überrumpelt einen Schritt zurück. Sie fixierte ihn und spürte, wie vor Wut mittlerweile auch ihr Blick pochte. War es Wut? Sie fühlte sich benutzt, als ein Mittel zum Zweck, den sie ihm auch noch erfüllen wollte. Sie hatte ihm geglaubt und mit ihm gefühlt, sie hatte ihm helfen wollen und ihn so sehr bewundert für seine Stärke und Selbstlosigkeit, die er für seine Mutter aufbrachte. Wie konnte er so kalt sein, so emotionslos? Und wie hatte sie sich so täuschen können? Wahrscheinlich passte er doch perfekt in dieses Business. Sie passte nicht hinein. Immer noch sah er sie überrumpelt an. Mittlerweile standen sie sich mit etwas Abstand gegenüber.

„Du hast mich falsch verstanden", sagte er, die Hand immer noch an seiner Wange. Oh nein. Schluss damit.

„Das glaube ich nicht", erwiderte sie und stützte sich mit einer Hand an der Containerwand ab. Schwindel lass nach. Sie kämpfte gegen die Übelkeit. Sich hier vor ihm übergeben zu müssen wäre entwürdigend.

„Du hast keine Ahnung, wie sich so etwas anfühlt. Ich weiß gar nicht, ob du überhaupt weißt, was fühlen ist", sagte sie und starrte auf den Boden. Er reagierte nicht darauf. Die Stille im Container war beinahe unerträglich. Auf keinen Fall konnte sie aufsehen und ihn ansehen, nie wieder würde sie ihn ansehen können. Also schloss sie die Augen.

„Doch", hörte sie ihn dann. Seine Stimme war leise, von Festigkeit oder Wut war nichts zu hören. Dann war wieder Stille. Sie lauschte ihrem Atem, der allmählich ihre Wut zu bändigen schien. Langsam. Aber immerhin.
„Ich fühle Schmerz und Hilflosigkeit. Angst", sprach er dann weiter. Sie schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf.
"Ich habe... verloren, Louisa."

BrokenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt