Siebenundzwanzig

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Alea fühlte sich über die ganze Fahrt hinweg seltsam wach, obwohl sie die zweite Nacht in Folge nicht geschlafen hatte. Taylor hatte ihr zwar empfohlen, es während der Fahrt zu versuchen, doch sie hatte kein Auge zu tun können. Zu sehr fieberte sie der Ankunft im Jackson State Forest entgegen. Endlich hatten sie eine ernstzunehmende Spur, endlich war eine Lösung der Situation in greifbare Nähe gerückt. Das Familienfoto.

Sie spürte ein flaues Gefühl in der Magengegend bei dem Gedanken, was dort auf sie warten könnte. Wer dort auf sie warten könnte. Sie wusste nicht, wie sie sich Louisa gegenüber verhalten sollte, falls sie sich dort mit Jacob aufhielt. Hatte sie ein Recht, sauer zu sein? Wollte sie überhaupt sauer sein? Dumpf erinnerte sie sich an die ernüchternde Situation vor der Modelagentur. Was, wenn auch Jackson State eine Niete war? Bitte nicht! Sie seufzte. Ein Blick auf das Navigationssystem verriet ihr, dass es nicht mehr lange dauern konnte. Taylor fuhr von der Hauptstraße auf einen kleineren Weg ab.

„Es ist nicht mehr weit." Es waren die ersten Worte, die er seit langer Zeit sprach.
Alea war so nervös, dass sie nur nicken konnte. Nicht mehr weit. Endlich, nach Stunden der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit war dies der Silberstreifen am Horizont. Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Trotz der kalten Jahreszeit war der Wald erstaunlich grün, die Anfänge des Frühlings waren bereits zu erahnen.

„Es ist wirklich ziemlich abgelegen", stellte sie fest. Er nickte.

„Ja, das ist es. Einfach perfekt, wenn wir mal aus der Großstadt raus wollten. Hier her kam nie jemand und wir konnten immer stundenlang durch den Wald laufen, uns verstecken, Staudämme bauen...was Jungs eben so machen."

Er warf ihr einen kurzen Blick zu und verlangsamte dann das Tempo des Wagens, da der Weg immer enger und unübersichtlicher wurde. Einige Äste von riesigen Tannen wucherten auf den Weg und hielten das Licht der schwachen Morgendämmerung zurück.

„Ein bisschen unheimlich ist es hier schon", murmelte Alea und rieb sich über die Arme. Hätte sie sich doch eine dickere Jacke mit genommen. Und noch eine für Louisa, sie musste hier draußen ja zu Tode frieren. Hoffentlich ließ Jacob seine Finger von ihr. Wenn er die Situation zu seinen Gunsten nutzen würde, dann...
„Gnade ihm Gott", murmelte Alea vor sich hin. Erst als sie bemerkte, dass sie die Worte laut ausgesprochen hatte, sah sie erschrocken zu Taylor.
„Stoßgebete, ja?", fragte er und sah sie flüchtig an. Sie erkannte jedoch eindeutig, wie angespannt auch er war.

„So ähnlich." Zusammenreißen. Sie musste sich konzentrieren, ihre Gedanken ordnen. Louisa war überpräsent in ihrem Kopf. Das Verschwinden passte nicht zu ihr, egal, wie Alea es drehte und wendete oder zu erklären versuchte. Es war untypisch für sie, nicht ihre Art. Zu sehr hing sie an ihrer heilen Familie, ihrem Leben in Sacramento, an ihrer Mum, an ihrer Wohnung, möglicherweise immer noch an Dominic und an...ihr. Sie kannten sich doch schon so lange. Gedankenverloren sah Alea auf die vorüberziehenden Bäume und den schlammigen Weg vor ihnen. Oder sie irrte sich. Möglicherweise war es genau das, was Louisa in die Flucht getrieben hatte. Uralte Gewohnheit und Routine. Ihr Leben war momentan komplett auf den Kopf gestellt, ihre Beziehung in die Brüche gegangen, ihr Studium neigte sich dem Ende entgegen und sie wusste nicht einmal ansatzweise, was sie danach tun sollte. Sie hatte den Halt verloren.

Alea musste schlucken und ballte ihre Hände in ihrem Schoß zu Fäusten. Die ganze Reise war ihre Idee gewesen und sie hatte Louisa gegen ihren Willen überredet, sie zu begleiten. War es am Ende vielleicht einfach... ihre Schuld? Falls Louisa wirklich in Schwierigkeiten geraten war, dann...

„Wir sind da."

Taylor hatte den Wagen zum Stehen gebracht und riss Alea aus ihren düsteren Gedanken. Das Tageslicht war mittlerweile so hell, dass man die Umgebung problemlos erkennen konnte: Direkt vor ihnen erstreckte sich eine Wiese, auf der in kurzer Entfernung eine schlichte, zweistöckige Hütte platziert war. Es sah verlassen aus, als wäre hier seit Jahren niemand mehr gewesen. Um das Haus herum wucherten wilde Farne, die nach dem langen Winter schlapp herunterhingen. Im Hintergrund erstreckte sich ein endlos wirkender Wald, dunkel, der die Wiese in einem Halbkreis umschloss. Im Sommer war es hier bestimmt schön, mit dem vielen Grün und der unendlichen Stille. Unweit entfernt hörte man lediglich einen Bachlauf plätschern, ebenfalls umgeben von wilden Farnen. Die Luft roch im Gegensatz zur stickigen Innenstadt frisch und sauber, der Duft nach Holz mischte sich mit dem des Morgentaus.

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