Sie versuchte, sich auf ihren Atem zu konzentrieren. Nein. Wie viele Mädchen waren wohl auf ihn reingefallen? Wie vielen hatte er San Franciscos Lichtermeer gezeigt, wie viele hatte er in sein Zimmer geführt, mit ihnen geschlafen, wie vielen hatte er die bewegende Geschichte mit seiner Mutter erzählt? Nur halb bemerkte sie, dass er seine Hände aus ihren gelöst hatte. Bestimmt hatte Alea bereits die Polizei gerufen. Sie hatten sich ewig nicht mehr gesehen. Alea ahnte sicher, dass irgendetwas nicht stimmte. Das tat sie immer. Sie musste es ahnen.
Im gleichen Moment spürte Louisa, dass Jacob ihr vorsichtig sein Hemd über die eiskalten Schultern legte. Hatte er sich ausgezogen? Sie ließ es geschehen, ohne sich zu wehren. Es war warm, aber nicht einmal im Ansatz ausreichend, um sie aufzuwärmen. Zu tief saß der Schock in ihrem Körper. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, dass er nur noch ein schwarzes Tanktop trug. Er saß vor ihr und starrte auf den Boden. Eine Zeit lang beobachtete sie ihn schweigend.
Seine dunklen Haare, die Muskeln an seinen Armen, seine breiten Schultern und seine schönen Hände. Wie zart sie sein konnten. Wie zart er sein konnte. Sie hatte sich so hingezogen gefühlt zu dem gebrochenen Jacob, der so sehr kämpfte, um sich einen kleinen Teil seiner Familie zu erhalten. Lange sah sie auf seinen Oberkörper. Erst dann fiel ihr die Wunde unter seinem Top auf. Die Haut oberhalb seiner linken Brust war stark gerötet. Hatte er sich doch verletzt? Waren das die Schmerzen, die er so gelitten hatte? Irritiert sah sie wieder zurück in sein Gesicht. Er wirkte beinahe zerbrechlich. Offenbar zerfraßen ihn die Schuldgefühle. Oder sein Misslingen.
„Wie viele Mädchen waren vor mir?", fragte sie mit brüchiger Stimme und schielte nervös wieder auf seine Brust, unsicher darüber, ob sie die Antwort überhaupt hören wollte. Woher kam die Wunde? Jacob hatte einen Moment die Augen geschlossen. Zitterte er? Innerlich schien er einen ungemeinen Kampf zu kämpfen. Nachdem er das erste Mal zum Sprechen angesetzt hatte und wieder abbrechen musste, ballte er die Hände zu Fäusten. Sie konnte nicht sagen, ob er den Kampf gegen sich selbst gewinnen würde.
„Abby... Erin..." Mit jedem Name wurde seine Stimme leiser.
„Jordan... Kayla... Hailey..und-" Er stoppte. Jetzt zitterte er eindeutig. Großer Gott. Was war mit all diesen Mädchen geschehen? Wo waren sie jetzt? Trotz der Gänsehaut auf ihrem Körper schob Louisa sein Hemd von sich und rutschte auf ihn zu. Irgendetwas an seiner Brust hielt ihre Aufmerksamkeit. Instinktiv zog sie das Tanktop auf der linken Seite seines Oberkörpers ein Stück herunter. Dann setzte ihr Herzschlag für einen Moment aus. Sein Tattoo oberhalb der Brust hatte sich um einen tiefschwarzen, fingerlangen Strich erweitert. Die Haut darum war stark gerötet, es konnte erst wenige Stunden alt sein. Es musste erst wenige Stunden alt sein, am Abend hatte er es noch nicht gehabt. Fassungslos sah sie auf in sein Gesicht. Einen Scheiß handelte es sich um angespartes Geld.„Ava Carter." Diesmal war seine Stimme weggebrochen. Nein. Das war zu viel. In diesem Moment war es zu viel. Sie spürte, wie sie an die Containerwand zurücksank. Irgendwie stieß sie sich dabei den Kopf, aber sie spürte keinen Schmerz. Ihr gesamter Körper war taub. Abwesend starrte sie auf den pechschwarzen, eintätowierten Strich neben den anderen. Ein Name, ein Strich. Ein Schicksal, ein Strich. Ein Leben, ein Strich. Sie spürte, wie alle Geräusche um sie herum dumpf erklangen. Nur noch ihren unregelmäßigen Atem konnte sie hören. Jacob hatte die Arme auf seine angezogenen Knie gelegt und die Stirn auf seine Arme. Es zerriss ihn. Deutlich sah sie, wie seine Muskeln hervortraten.
Es war ihr eigenes Schluchzen, das die Stille unterbrach. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass sie zu weinen begonnen hatte. Heiße Tränen liefen über ihre Wangen ohne dass sie überhaupt blinzelte. Sie liefen einfach über und tropften von ihrem Kinn. Sie weinte um Ava. Ein Mädchen, das sie nie gekannt, nicht einmal gesehen hatte. Ein Mädchen, das in einer völlig fremden Stadt aufgewachsen war, von dessen Existenz sie nicht einmal gewusst hatte. Es war das Schicksal, das sie teilten. Es war Jacob, der ihre Gemeinsamkeit darstellte.
Wie hatte Ava auf ihn hereinfallen können? Was hatte er ihr erzählt, hatte er sie geküsst? Mit 21 hat man doch noch alles vor sich. Jetzt war sie tot. Verkauft und weggeworfen, wie eine alte Puppe. Das Bild vor Louisas Augen verschwamm, zu schwach war sie, die Tränen wegzublinzeln. Sie erkannte nur noch Jacobs Umrisse vor sich. Avas Name und ihr Strich auf Jacobs Brust waren zugleich Louisas Todesurteil. Immer noch lag sein Kopf auf seinen Armen. Weinte er? Sie spürte, wie sie heftig zu zittern begann. Regelmäßig pochte der Schmerz nun wieder an ihrer Stirn. Sie dachte an ihre Eltern. Sie waren im sonnigen Los Angeles und bekamen nichts mit. Zum Glück bekamen sie von alldem nichts mit. Auch Alea ging es gut. Sie saß vermutlich im Hostel und beendete ihre Arbeit. Hoffentlich machte sie sich nicht zu viele Sorgen um Louisa. Oder vielleicht doch?
Sie neigte dazu, sich Sorgen zu machen. Dann dachte sie an ihre Wohnung. Dominic würde dorthin zurückkehren, wenn sie es nicht tat, das wusste sie. Vermutlich würde er seine neue Freundin mitnehmen und neu anfangen. Wie sehr wünschte sie sich das auch. Restart. Noch einmal von ganz vorne beginnen. Ihr Blick fiel auf Jacob. Er hatte den Kopf gehoben und starrte ins Leere. Sie konnte nicht feststellen, dass er geweint hatte. Eigentlich hatte auch er einen Neuanfang verdient. Kurz schüttelte sie den Kopf. Es war absurd, dass sie ausgerechnet jetzt an sein Wohlbefinden dachte. Er war ein Verbrecher. Und er hatte große Fehler gemacht, in seinem jungen Alter. Das würde sicherlich nicht ungestraft bleiben. Aber er hatte einen Kampf gekämpft. Für sich und für seine Mutter. Und er hatte ihn bitter verloren. Er war von der Bahn abgekommen und hatte sich auf Dinge eingelassen, die er unmöglich einschätzen konnte. Mädchen für Mädchen hatte er sich mehr zerstört. Hatten sie ihn mehr zerstört. Und sie konnte sehen, wie er vor ihr zerbrach. In diesem Moment. Sie hatten alle einen Neuanfang verdient. Alle miteinander.
„Ich glaube dir", sagte sie mit einem Mal und war überrascht über ihre eigenen Worte, die durch den Container hallten. Dummes Mädchen, was sprichst du da? Sie hatte aufgehört zu weinen.
„Was?", fragte er nur. Seine Stimme war kein bisschen fester als zuvor, dafür ungläubig, beinahe entsetzt. Ebenso entsetzt wie ihre innere Stimme. Es war der falsche Zeitpunkt, Jacob Trost zu spenden. War es?
„Du weißt nicht, was mit ihnen passiert. Du wusstest nicht, was mit Ava passieren würde. Du..." Sie musste innehalten. Bilder schossen durch ihren Kopf, Erinnerungen an die Autofahrt, als er sie aus dem Wagen geschmissen hatte. Sie war so unfassbar wütend über seine akute Reaktion gewesen. In Sekunden hatte er den Wagen zum Stehen gebracht und sie einfach vor der Tür abgesetzt. Ins nasse Grau einer fremden Stadt, in der nur kurz zuvor ein Mädchen ermordet wurde. Überrascht sah sie in sein Gesicht. In Sekunden.
„Die Autofahrt zur Agentur...Ich hab das Ipod Kabel aus dem Radio gerissen, weil ich so unglaublich wütend auf dich war", murmelte sie dann. Konzentriert versuchte sie sich zu erinnern. Es war alles so schnell gegangen. So unverhofft schnell.
„Und was wir im Radio gehört haben, war... Avas Todesnachricht. Du hast sofort angehalten. Hast du mich deshalb aus dem Wagen geschmissen? Warst du deshalb so... -" Sie stoppte. Kalt? Wütend? Fassungslos? Ihr Blick musste ihn beinahe durchbohren. Hatte ihn die Nachricht so aus der Bahn geworfen? Hatte er sie... schützen wollen? Er sah sie nun ebenfalls wieder an. Seine Augen ruhten auf ihren, aber sie erkannte ein leichtes Beben darin.Heilige Scheiße. Sie konnte nicht ahnen, wie seine Reaktion ausfallen würde.
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ChickLitHast du dich jemals gefragt, wie wertvoll du wirklich für jemanden bist? 21, betrogen und verlassen. Louisas heile Welt ist zerbrochen und ihr derzeitiges Leben findet höchstens noch in sozialen Netzwerken statt. Bis sie plötzlich in San Francisco...