Neunzehn

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Es war erkennbar, dass er mit sich rang, dass er sich schwer tat, überhaupt zu sprechen.
„Sie...", setzte er an und brach dann erneut ab. Langsam drehte er sich wieder von Louisa weg und stützte sich auf die Stuhllehne, vor der er stand. Lange sah er aus dem großen Fenster über die Stadt. Sie musste erneut schlucken und stand dann langsam auf. Vielleicht hatte sie gar kein Recht dazu, ihm derart private Fragen zu stellen. Offensichtlich bereitete es ihm heftige Schwierigkeiten, auch nur darüber nachzudenken. Wortlos lief Louisa bereits auf das Bad zu und versuchte, dabei so geräuschlos wie möglich zu bleiben. Vielleicht sollte sie ihn besser eine Zeit in Ruhe lassen.

Möglicherweise hatte er bereits Essen bestellt, wenn sie aus der Dusche zurückkam und die angespannte Stimmung zwischen beiden würde sich entkrampfen. Sie brauchten sicher beide etwas Zeit, um sich wieder zu sammeln.

„Vor einigen Jahren ist mein älterer Bruder gestorben. Das hat sie nicht verkraftet. Bis heute nicht. Dann ist mein Vater abgehauen. Seitdem trinkt sie. Zweimal hat sie versucht, sich umzubringen. Ich hab sie erwischt. Als ich von der Arbeit kam", erzählte er dann, wobei er immer noch aus dem Fenster starrte. Erschrocken war sie stehengeblieben. Gottverdammmich. Das war verdammt viel Information für verdammt wenige Sätze. Und verdammt viel Schicksal für sein verdammt junges Alter. Langsam drehte er sich wieder zu ihr und verschränkte dabei die Arme vor der Brust. Obwohl er gesprochen hatte, wirkte er nicht sonderlich erleichtert. Seine Augen verrieten seine Unsicherheit. Als Louisa bemerkte, wie sie ihn anstarrte, räusperte sie sich kurz und nahm den Blick von ihm. Verlegen trat sie von einem Bein aufs andere.

„Fast täglich sehe ich nach ihr. Nie weiß ich, ob sie überhaupt noch lebt. Oder ob ich sie wieder mit offenen Pulsadern vorfinde. Flehend, dass ich sie einfach sterben lasse. Einfach verbluten lasse, in dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin. In dem mein Bruder und ich Träume hatten. Und Erwartungen an die große Welt." Er lächelte vage, er belächelte seine eigenen Wünsche aus der Kindheit, während er auf den Boden sah. Mit weiten Augen beobachtete sie ihn. Sein Blick verriet seine tiefe Verwundung. Großer Gott, all die Zeit war er noch viel verletzter gewesen als sie es war. Sie hatte sich nur blenden lassen von seiner Professionalität. Ihr war mit einem Mal unangenehm kalt.

„Sie nennt es egoistisch, dass ich ihr den Wunsch nach dem Tod nicht erfülle. Dass ich mich nicht einfach umdrehe und wegsehe. Aber ich brauche sie. Und sie braucht Hilfe. Noch kann ich mir kein Pflegeheim leisten, aber bald. Nur dafür arbeite ich, aber es ist jede Sekunde wert. Es ist okay, ich... fürchte, ich habe gelernt, damit zu leben. Ich habe mehrere Jobs gleichzeitig, um ihre Therapiekosten zu bezahlen. Der Job in der Agentur ist echt nicht schlecht. Ich meine... schau dir das hier an." Er hob beinahe verzweifelt die Arme und sie sah flüchtig durch das Zimmer, bevor sie wieder zu ihm zurücksah. Er war zerrissen zwischen schlechtem Gewissen, Sorge, Einsamkeit und Hoffnung. War es ihm das wirklich wert?

„Was wollen die dafür von dir?", fragte sie dann. Wie konnte es sein, dass Jacob bitterarm und steinreich zugleich war? Und was hatte es mit ihr zu tun? Sie lief nun ebenfalls auf ihn zu, langsam, als könne sie ihn mit jedem Schritt verscheuchen wie eine scheue Katze. Er war dabei, sich ihr zu öffnen. Offenbar hatte er noch nicht häufig über sich gesprochen. Möglicherweise noch nie. Er wich ihrem Blick aus.

„Sie wollen, dass ich ihnen Mädchen organisiere. Nachwuchsmodels. Sie schicken mich los als Scout. Ich bekomme...ordentlich Provision für jedes Mädchen, das ich ihnen zum Shootingtermin bringe. Und noch mehr, wenn es dann für längere Zeit klappt. Sie zahlen wirklich gut, ich konnte Einiges zurücklegen. Und ich brauche jeden Cent für die Genesung von Mum. Meinen Dad und meinen Bruder hat sie schon verloren. Es ist jetzt meine Aufgabe." Erst jetzt sah er wieder auf. Sein Blick war hart und entschlossen. Wow. Er hatte sie die ganze Zeit nicht ansehen können, während er sprach. Offenbar war ihm nicht so wohl bei der Sache, wie er vorgab. Tough Business. Flüchtig fragte sie sich, wie viel Sarah ihm wohl eingebracht hatte.
„Machst du das gerne? Ich meine...die Mädchen?" Sie stand nun unmittelbar vor ihm. Sofort nahm er wieder den Blick von ihrem Gesicht. Dann zuckte er die Achseln.
„Ist okay." Okay?! Das glaubte sie ihm nicht.

BrokenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt