Der unsanfte Griff des Mannes um ihr Handgelenk schmerzte sie. Er konnte mit seiner rauen, starken Hand ihr gesamtes Gelenk umgreifen und zog sie hinter sich her, immer weiter weg vom Container. Sie kannte ihn nicht. Es war keiner der Männer, die zuvor in der Agentur oder im Club gewesen waren. Oder doch? Sie konnte sich unmöglich erinnern. Zu viert waren sie gekommen, um Jacob und sie aus dem Container zu holen. Nur flüchtig hatte sie sich außerhalb umsehen können, sie befanden sich inmitten eines Industriegebiets im Hafen, sie hatte weit und breit nichts erkennen können außer verlassenen Lagerhallen. Von Menschen war keine Spur, alles war leblos gewesen. Tot. Die Männer waren allesamt in schwarz gekleidet, sie hatten nur wenige Worte auf Spanisch gewechselt. Widerstandslos hatten Jacob und Louisa sich mitnehmen lassen. Aberwitzig. Es waren die Falschen, die gerade festgenommen wurden.
Angespannt starrte Louisa dem südländischen Mann vor sich auf den Rücken. Schweißflecken hatten sich auf seinem schwarzen Hemd gebildet, obwohl es kühl war. Kalt. Der Himmel über ihnen war trüb und bewölkt, dennoch hatte Louisa mit dem Tageslicht zu kämpfen, mit jedem Schritt wurde ihr Kopfschmerz heftiger. Sie stolperte ihm über den Schotter nach auf eine riesige und heruntergekommene Lagerhalle zu. War es das? Es war ihr egal. Sie würde keine Kraft mehr haben, um sich zu wehren. Sie hatte beinahe nicht einmal die Kraft, sich noch weiterhin auf den Beinen zu halten. Das schwarze Flimmern vor ihren Augen nahm erneut zu. Vielleicht war es besser, einfach das Bewusstsein zu verlieren? Möglicherweise würde sie dann erst in einem blütenweißen, frischbezogenem Krankenhausbett wieder aufwachen, nachdem irgendwer sie irgendwo gefunden hätte. Wenn alles vorbei war. Und Jacob? War er überhaupt noch hinter ihr?
Angestrengt starrte sie auf den Schotter unter sich und versuchte, seine Schritte hinter sich zu hören, aber sie hörte nichts. Nichts als das Pochen ihres eigenen Pulses. Sie musste taub geworden sein. Es konnte nicht mehr weit sein bis zur Halle, aber das schwarze Flimmern machte es unmöglich, auch nur irgendetwas zu erkennen. Sie spürte ihren Puls rasen und ihre Finger begannen zu kribbeln. Sie würde mit ziemlicher Sicherheit in einigen Sekunden bewusstlos werden.
„Sir...Ich..." Ihre eigene Stimme erklang dumpf, in kilometerweiter Entfernung.
„Hände zusammenpressen und pumpen, Lou. Konzentrier dich. Du musst jetzt-"
„CÁLLATE! Du scheiß Hund!" Unsanft riss der Mann an Louisas Handgelenk, während er hinter sich brüllte. Egal.Er war noch da. Irgendwo hinter ihr war Jacob und hatte sie genau im Blick. Kraftlos versuchte sie, die freie Hand zur Faust zu ballen und zusammenzupressen. Pumpen. Konzentrieren.
„Ihr bewegt euch keinen Schritt von der Stelle, sonst lass ich euch abknallen!" Der Mann stieß Louisa heftig vor sich ins Dunkle. Erst jetzt war ihr aufgefallen, dass sie die Augen zusammengepresst hatte. Als sie sie öffnete, ließ das Flimmern etwas nach. Ein beißender Geruch nach Benzin umgab sie, ihr Handgelenk brannte von dem barschen Griff des Mannes. Die Dunkelheit in der Lagerhalle verhalf ihr allmählich wieder zu einem klareren Bild. Massive Stahlbalken zogen sich in regelmäßigen Abständen vom Boden zur Decke, die wenigen Fenster der Halle waren zum Großteil mit modrigen Holzbrettern versperrt, die restlichen Fenster waren eingeschlagen. Nur spärlich drang Licht in die Halle und zeigte den von Scherben und Steinen bedeckten, schmutzigen Boden, auf dem sie standen. Gearbeitet hatte hier wohl seit Jahren niemand mehr. Vielmehr wurde die Halle jetzt zu anderen Zwecken genutzt. Als Hinrichtungsstelle.
„Lou." Jacob hatte plötzlich ihr Gesicht fest in seine Hände genommen und zwang sie somit, ihn anzusehen. Ein paar Mal musste sie blinzeln, um ihn klar erkennen zu können. Dann erst verbanden sich die zwei Jacobs vor ihren Augen zu einem.
„Sie bringen uns um", murmelte sie und sah ihn an. Es war eine Feststellung. Die logische Konsequenz. Nur deshalb waren sie hergebracht worden. Der Gestank nach Benzin benebelte sie. Irgendwo hier mussten Tonnen davon gelagert sein. Was wollte jemand mit so viel Benzin? Erschrocken sah sie in Jacobs Gesicht. Er reagierte nicht darauf.
„Ich bleib bei dir. Aber ich möchte, dass du auch bei mir bleibst. Nicht ohnmächtig werden, hast du verstanden? Du darfst jetzt nicht ohnmächtig werden." Er sah sie eindringlich an. Sie wollte nicken, aber dazu hielt er ihr Gesicht zu fest in seinen Händen. Augenblicklich hatte der Schwindel nachgelassen.„Ich bringe dich sofort ins Krankenhaus, wenn wir hier raus sind." Wenn. Er hatte wenn gesagt, nicht falls. Wie konnte er sich so sicher sein? War er sich überhaupt sicher? Sie war zu nichts anderem fähig, als ihn weiterhin anzustarren. Er sah tatsächlich entschlossen aus. Sie würde sicher eine lange Zeit brauchen, um sich von allem zu erholen. Von dem langen Weg durch den Regen zum Hostel, der fast schlaflosen Nacht mit Jacob, der Aufregung und dem Sturz. Im Augenblick schien eine Erholung in unendlicher Ferne. Ihre Beine konnte sie kaum noch spüren. Sie wusste nicht einmal, ob sie stehen bleiben würde, wenn er ihr Gesicht wieder losließ.
Das unerträglich schrille Zerklirren einer Fensterscheibe neben ihnen, ließ Jacob seine Hände von ihr reißen. Erschrocken drehte auch Louisa sich um. Sie stand noch, auch ohne seinen Griff.
„Das war ein Schuss. Hier hat irgendwer auf uns geschossen." Alarmiert sah er sich um und lief dann auf das Fenster mit dem zersprungenen Glas zu.„Bleib stehen! Bist du wahnsinnig, du hast doch gehört, dass sie uns töten, wenn wir uns hier bewegen!", rief sie ihm nach. Nanu? Wo kam plötzlich die neue Kraft her? Sie hatte ganz offensichtlich Angst um Jacob. Blitzartig huschte ihr Blick durch die gesamte Halle. Leer. Außer ihnen war niemand hier, zumindest konnte sie niemanden sehen. Jacob war vor dem Fenster in die Knie gegangen und hatte etwas vom Boden zwischen zwei Finger genommen. Erschrocken und mit flachem Atem beobachtete sie, wie er etwas in seiner Hand musterte.
„Er ist hier", sagte er dann und sah auf zu Louisa.
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ChickLitHast du dich jemals gefragt, wie wertvoll du wirklich für jemanden bist? 21, betrogen und verlassen. Louisas heile Welt ist zerbrochen und ihr derzeitiges Leben findet höchstens noch in sozialen Netzwerken statt. Bis sie plötzlich in San Francisco...