Fünfzig

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„Ich komme mit Ihnen", keuchte sie dann kurz entschlossen und trat einen Schritt vor, bevor Jacob reagieren konnte. Sie spürte die Blicke der anderen wie Messerstiche im Rücken. Alea konnte unmöglich alles verstehen, wovon sie sprach, dazu hatte sie die ganze Zeit zu wenig mitbekommen. Oder? Und Jacob wollte es nicht verstehen.

„Das ist es doch, was Sie eigentlich wollen, oder? Jake war beauftragt, mich auszuliefern. Das hat er getan. Ich bin hier. Ich gehe mit Ihnen. Wenn die anderen jetzt gehen können. Und ich auch. Danach." Sie schluckte erneut und spürte jeden einzelnen Pulsschlag zentnerschwer in ihrem Hals schlagen. Es war mit einem Mal still, viel zu still, sie konnte unmöglich die Reaktion einer der anwesenden Personen einschätzen. Es gab keine Reaktion. Angespannt sah sie auf und in das Gesicht des Mannes, der immer noch seine Waffe auf Jacob hielt.

„Komm mal mit, meine Liebe." Er ließ die Waffe mit einem Mal sinken. Dann drehte er sich um und lief zurück zu den Männern, die immer noch hinter ihm standen. Überrascht beobachtete Louisa seine Reaktion, für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich Jacobs und ihr Blick. Er sah sie warnend an. Untersteh dich. Sie konnte seine Stimme förmlich in ihrem Kopf hören. Entschlossen wandte sie den Blick ab und folgte dem Mann dann. Schluss jetzt. Nicht opfern, aber auch keinen Helden spielen. Die Zeit für Helden war definitiv wann anders. Zu einer Verhandlung gehören zwei. Sie hatte es einfach für Jacob übernommen.
„Mein liebes Kind." Er zeigte seine gelben Zähne, unter seiner Nase war das Blut bereits getrocknet. Sein schlechter Atem schlug ihr entgegen. Louisa wandte den Blick ab. Sie war kein Kind. Und schon gar nicht seins.

„Nenn mir doch bitte einen Grund, weshalb ich das tun sollte. Weshalb ich sie gehen lassen sollte. Deine Freunde." Er deutete hinter sie. Vorsichtig drehte sie den Kopf über die Schulter und sah ebenfalls hinter sich. Sie standen unverändert nebeneinander. Aleas Begleitung wirkte gefasst. Breitbeinig stand er neben ihr, die Arme vor der Brust verschränkt. Sein Gesichtsausdruck war fest, beinahe hart. Er war groß und kräftig, er wirkte wie ein Bär, der sich in seiner vollen Größe aufgebaut hatte. Dass sie von dem Zusammenprall mit ihm und seinem mächtigen Körper zu Boden gefallen war, verwunderte sie nicht mehr. Von Angst war nichts zu sehen, es war Entschlossenheit, die man in seinen Augen erkannte. Er würde hinnehmen, was kommt, bis zum bitteren Ende. Ihr Blick schweifte weiter zu Alea, zwischen beiden Jungs wirkte sie wesentlich kleiner als sonst. Sie kam beinahe um vor Sorge, Louisa musste schlucken, als sich ihre Blicke trafen. Sie dürfte nicht hier sein. Wieso war sie nur hier? Was auch immer mit ihr geschehen würde, war alleine Louisas Schuld. Alea hatte Jacob misstraut, hatte Louisa gewarnt, mit ihrem scharfen Blick, der keine Emotionen zuließ. Jetzt erkannte sie deutliche Emotionen in Aleas Gesicht. Sie hatte Angst, sie war ohnmächtig. Sie wusste, dass sie keinen Einfluss mehr auf das hatte, was geschehen würde. Aber sie war hier. Es waren Scham, Schuld und unendliche Erleichterung zugleich, die Louisa verspürte, als sie Alea hinter sich stehen sah. Sie dürfte niemals hier sein. Aber sie war hier. Bei ihr. Viel zu selten hatte sie ihrer Freundin gesagt, was sie ihr bedeutete. Wie sehr sie ihre Rationalität und klaren Gedanken schätzte, wie wertvoll und unersetzlich sie war. Immer war sie die Erwachsenere gewesen. Die Sorge in ihren großen braunen Augen verlieh ihr etwas unglaublich Wunderschönes. Verzeih, Al.

Und dann...Jake. Er stand beinahe unverändert neben Alea, zwischen beiden bestand ein erkennbarer Abstand. Seine Hände waren immer noch zu Fäusten geballt, sie erkannte Adern an seinen Armen, Händen und an seiner Stirn hervortreten. Er vermied es, Louisa anzusehen. In seinen Augen lag Wut, eindeutig erkannte sie den Zorn, wie schon so häufig zuvor. Er war zerrissen. Er hatte sie beide getäuscht, Alea und sie. Er war weder Gut noch Böse. Vielmehr war er ausgeliefert, abhängig vom Geld anderer, er hatte viele schwere Fehler gemacht und noch mehr daraus gelernt. Aber er hatte das sinkende Schiff im letzten Moment verlassen. Und jetzt würde sie versuchen, ihm im Eiswasser auf die Tür zu helfen. Im Kampf, den er jede Sekunde kämpfte, war er selbst sein härtester Gegner. Er kämpfte, gerade stehen zu bleiben, obwohl die gesamte Welt dabei war, ihn in die Knie zu zwingen. Aber er stand. Vielleicht war er stärker als er es jemals war. Schau her, Jake. Als ihre Blicke sich trafen, baten seine Augen sie um Verzeihung. Sie verzieh ihm. Sie hatte ihm längst verziehen. Er hatte alles verloren, aber es war seine Würde, die er behalten hatte. Sie sah ihn lange an, bevor sie sich zurückdrehte und dem Mann vor sich wieder ins Gesicht sah.

„Weil es Ihr Part des Deals ist. Und es gehören immer zwei dazu." Sie schluckte, während sie seinem Blick standhielt.

BrokenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt