Fünfunddreißig

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„Ich wäre nie mit dir in diese Agentur gefahren", sagte er dann leise. Sie beobachtete ihn weiterhin. Ach nein? Schweigend sah sie ihn weiter an. Waren sie nicht genau auf dem Weg dorthin gewesen?

„Es war das erste Mal, dass ich die Gewissheit hatte, dass sie die Mädchen umbringen. Ich... hab Ava damals wie alle anderen Mädchen vorher zum vereinbarten Termin in die Agentur gebracht. Ich hatte keine Ahnung, was genau sie mit den Mädchen anstellen, ich konnte mir nur denken, dass es wenig mit einem Modelvertrag zu tun hat. Ich wollte es nicht wissen. All die Mädchen zuvor waren nicht aus der Stadt, ich wusste nicht, ob sie vielleicht einfach wieder...zurück gefahren sind. Ich dachte, dass es bei Ava ähnlich wird. Sie war so euphorisch, so begeistert von allem. Von mir. Sie hatte sofort zugestimmt, ich hatte kaum etwas unternehmen müssen, um sie zu überzeugen. Sie hat genau in die Vorstellungen des Bosses gepasst, ich hab sie spontan an irgendeiner Mall in mein Auto gebeten, nur kurz nach Weihnachten. Aber ich hatte mich nicht gründlich genug über sie informiert, die Zeit hatte ich nicht. Sie war aus der Stadt, sie hat... einen Onlineblog geführt, der von vielen verfolgt wurde. Sie war ein bekanntes Gesicht, ihr Verschwinden hat für riesige Aufregung gesorgt. Du hast den Pressewirbel sicherlich mitbekommen." Er hielt kurz inne und sah für den Bruchteil einer Sekunde auf. Sie spürte, dass er ihr nicht in die Augen sehen konnte. Ava. Und das riesige Aufsehen um ihr Verschwinden. Nein. Sie hatte nichts von Avas Verschwinden mitbekommen. Sie hatte schmollend in ihrer Wohnung gesessen und sich von Eiscreme ernährt. Mit einem Mal schämte sie sich für ihr Selbstmitleid.

"Das hat... alle in Schwierigkeiten gebracht, viele waren stinksauer auf mich. Ich hatte versagt, Lou. In ihren Augen nahm ich es billigend in Kauf, dass alles auffliegen würde, ich hab die Cops aufmerksam gemacht, eine ganze Internet Community. Und somit meine Leute gefährdet. Sie müssen daraufhin irgendwen auf mich angesetzt haben, mich selbst überwacht haben. Mein Job war es doch lediglich, diese Mädchen an die Agentur zu bringen, wie schwer konnte das schon sein, aber selbst das habe ich nicht gründlich getan. Ich konnte doch nicht einmal im Ansatz ahnen, dass sie sie töten würden! Ich hätte sie nicht in die Arme ihrer Mörder geben können, wenn ich gewusst hätte, dass sie...getötet werden. Ich habe... sicherlich viel verdrängt und nicht wissen wollen, nicht wissen dürfen, aber...-" Er brach erneut ab und schüttelte nur den Kopf. Er rang um Fassung und drehte den Kopf von Louisa weg. Sie musste ebenfalls schlucken. Sprich weiter. Jetzt würde sie die gesamte Wahrheit erfahren. Egal, wie sehr sie ihnen beiden wehtat.

„Irgendwann habe ich dann angefangen, sie alle auf meinem Körper zu verewigen. Ich weiß, das ist... nichts. Aber ich wusste nicht, wie ich mit dem Schmerz anders umgehen soll, mit der Ungewissheit über ihr Schicksal und gleichzeitig der Gewissheit, dass ich ein Teil davon bin. Aber was hätte ich machen sollen, sag es mir. Ich hatte keine Wahl, ich brauche das verdammte Geld, meine Mutter stirbt mir doch unter den Händen weg!" Louisa hatte sich die Hände vor den Mund geschlagen. Selten hatte sie jemanden so leiden sehen wie Jacob. Er quälte sich. Instinktiv rutschte sie wieder auf ihn zu und ergriff seine Hand.

„Sie wird nicht sterben. Niemand von uns wird sterben." Sie sah, wie er widersprechend den Kopf schüttelte, ohne sie anzusehen.

„Ich hab mit dir geschlafen, Lou, verstehst du das nicht. Ich hab die Finger von dir zu lassen, du gehörst ihm alleine, das ist mein Job. Und sie haben es rausgekriegt, es ist nicht so, dass sie mich unbedingt brauchen, sie werden mich ersetzen, aus dem Weg räumen. Sie räumen alles aus dem Weg, was sie gefährdet. Das ist die Konsequenz, wenn man sich einmal nicht an die Regeln hält. Und es ist der zweite grobe Verstoß. Ich habe Ava verkackt. Ich habe Louisa verkackt." Sie spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken jagte. Die Art, wie er sprach, traf sie, obgleich sie wusste, dass er sich mit dieser Kälte nur selbst schützen wollte. Hatte er deshalb in der Clubnacht einen Schlag ins Gesicht bekommen? Weil sie sich zu nahe gewesen waren?

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