Achtunddreißig

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Wie in Zeitlupe trat sie an die Wand heran. Eines der Fotos, das auf ihrer Augenhöhe war, zeigte ein blondes Mädchen, das mit einem Cocktail in der Hand in die Kamera strahlte. Großer Gott.

Es war eine gesamte Collage mit Fotos des Mädchens. Mal war sie mit Freunden zu sehen, mal alleine, immer schien sie für die Kameras zu posieren. Neben der Collage mit ihren Fotos stand auf einem Stück Papier der Name des Mädchens geschrieben: Erin Bulmer. Erin Bulmer. Alea kannte sie nicht. Eilig betrachtete sie die restlichen Zettel und Fotos, die um Erins Bilder angeordnet waren. Bei einigen Zetteln handelte es sich um Ausdrucke von Erins Facebookseite, der man sämtliche Informationen über das Mädchen entnehmen konnte. Um Himmels Willen. Hier hatte sich jemand lückenlos über sie informiert. Stirnrunzelnd betrachtete Alea die Fülle an Informationen. Wozu brauchte Jacob so etwas? Wo hatte er all diese Informationen her? Es war erschreckend, wie viel er über Erin in Erfahrung gebracht hatte. Er schien alles über sie zu wissen. Ihr Geburtsdatum, den Namen ihres Freundes, er wusste, wie Erins beste Freundin aussah, was ihr Lieblingsessen war, wo sie zum College ging. Alea spürte ihr Herz wie wild schlagen, als sie den nächsten Abschnitt der Wand betrachtete. Er zeigte ein weiteres Mädchen, dieses Mal mit Namen Jordan Mitchell. Ähnlich wie bei Erin hatte Jacob auch diesmal sämtliche Informationen und Fotos, die er im Internet hatte auftreiben können, um Jordans Fotos herum aufgehängt. Eine Zeit lang sah sie in Jordans Gesicht auf einem der Fotos. Sie strahlte und ihre Sommersprossen leuchteten Alea entgegen. Was war mit ihr?

„Stammt aus Kentucky. 21 Jahre alt, single, in der Stadt um sich das College anzuschauen", las sie leise vor sich hin und strich mit ein paar Fingern über eines der Fotos.

Mittlerweile war ihr übel. Sie konnte sich nicht erklären, was Jacob mit diesen Informationen vorhatte, zumindest wollte sie den einen Gedanken, der in ihrem Unterbewusstsein schon seit Tagen umher kreiste, nicht zulassen. Sie schluckte und wandte sich entschlossen von der Wand ab. Schluss. Vielleicht waren sie erfolgreich vermittelte Models, die er sich einfach gerne ansah. Mit weichen Knien sah sie sich weiter um und versuchte die Fotos der starrenden Mädchen zunächst zu ignorieren. Sie brauchte Beweise, noch mehr Beweise, handfeste Beweise, Beweise, die sie zu Louisa führten. Erst wenn sie sich sicher war, konnte sie die schlimmen Gedanken zulassen. Was hast du getan, Jacob?

Zwei Kisten, die direkt unter einem der Fenster standen, erregten ihre Aufmerksamkeit. Alea ging in die Knie und öffnete die erste ohne zu zögern. Ein leises Knarren war zu hören. Heilige Scheiße! Sie hatte mit noch mehr Papieren gerechnet, doch was sie nun vor sich hatte, waren unzählige Bündel von Hundert-Dollar-Scheinen. Fassungslos starrte sie auf die Kiste voller Geld. Zwischen einer Reihe von Scheinen und der Rückwand der Kiste steckte ein brauner Umschlag. Ohne abzuwarten zog Alea ihn hervor und sah hinein. Er enthielt mehrere Pässe. Sie nahm einen heraus und schlug ihn auf. Jacobs Bild blickte ihr entgegen, sodass sie einen Moment erschrak. Seine braunen Augen fixierten sie.

„James Panel", murmelte sie irritiert. Sofort griff sie nach dem zweiten Pass und öffnete ihn. Erneut blickte er ihr ernst entgegen, es war das gleiche Bild wie zuvor.

„Frank Lanza." Fälschungen. Sie spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Erschrocken warf sie den Pass in den Umschlag zurück und ließ ihn in die Kiste fallen.

Hatte Taylor nicht gesagt, dass Jacob kein Geld hatte? Dass er pleite war? Was sollten die falschen Pässe? Und was die Fotos der Mädchen? Sie biss sich auf die Lippe sodass es beinahe schmerzte. Es ergab keinen Sinn, noch nicht.

Entschlossen wandte sie sich der zweiten Kiste zu, fest davon ausgehend, dass sich wohl noch mehr Bargeld darin befand. Vorsichtig klappte sie den Deckel hoch. Was sie sah, ließ sie vor Schreck so zusammenfahren, dass sie den Deckel der Kiste wieder herunterknallen ließ. Es war kein Bargeld, das sie vorgefunden hatte. In der Kiste befand sich eine Waffe, daneben sorgfältig aufgereiht ausreichend Munition. Scheiße.

Ihr wurde übel. Es war ein Gefühl, als schnürte ihr jemand genüsslich die Luft ab. Hoffentlich war Louisa nichts passiert, doch ihre Chancen standen von Minute zu Minute schlechter. Vielleicht war sie gar nicht mehr hier, nicht in dieser Höllenhütte, nicht in der Stadt, vielleicht sogar nicht mehr im Bundesstaat. Vielleicht war sie gar nicht mehr. Wo waren sie nur hinein geraten. Was für ein Spiel trieb Jacob mit ihnen? Sie verabscheute ihn mit jeder einzelnen Faser ihres Körpers.

Nun spürte sie den dicken Tränenkloß in ihrem Hals. Seit Tagen hatte sie dagegen angekämpft, seit Tagen hatte sie versucht stark zu sein. Aber nun konnte sie nicht mehr. Sie kniete noch immer vor den Kisten und ließ ihren Tränen freien Lauf. Zuerst kamen nur ein paar Tropfen, doch schon kurz darauf fing sie hemmungslos an zu weinen. Es fühlte sich ungewohnt an, sie konnte nicht sagen, wann sie überhaupt das letzte Mal geweint hatte. Es war Verrat, den sie empfand, Hass und gleichzeitig Scham. Auf keine ihrer Warnungen hatte Louisa hören wollen, sie hatte Jacob von Beginn an durchschaut. Sie hatte ihm misstraut. Verzweifelt strich sie sich das Haar aus dem feuchten Gesicht. Schande, hier ging es nicht um sie. Es ging um Louisa und ihr rätselhaftes Verschwinden.

„Wo bist du, Lou?", presste sie hervor und legte eine Hand an die Tischkante, um sich daran hochzuziehen, doch sie rutschte ab und landete unsanft wieder auf den Knien. Eines der Dokumente vom Tisch hatte sie versehentlich mit heruntergezogen, es lag auf dem Boden vor ihr, Tränen tropften darauf.
Sie kannte Louisa, sie würde niemals freiwillig weggehen. Dazu hing sie viel zu sehr an allem und jedem. Aber wo war sie? Sie vertraute den Menschen immer so schnell und das war nun die bittere Bilanz.

Sie wusste nicht, wie lange sie auf dem Boden gesessen und geweint hatte. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Mehr denn je hatte sie das Gefühl, schrecklich hilflos zu sein, ausgeliefert, abhängig von den Entscheidungen von jemand anderem. Von Jacob. Abwesend nahm sie den Ausdruck vor sich in die Hand, der teilweise von ihren Tränen bereits durchweicht war. Zweifelsohne erkannte sie das Logo des Fairmont Hotels.

„Auf dem Boden ist es viel zu kalt." Himmelherrgott.

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