Fünfundfünfzig

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Der Prozess hatte ihn deutlich gezeichnet. Abwesend starrte er auf einen Punkt in der Ferne, möglicherweise hing er ebenso seinen Gedanken nach wie sie es tat. Er sah schön aus. Besorgt, beschämt, mitgenommen, aber schön. Ein Teil von ihm war endlos erleichtert, dass alles vorbei war. Das sah sie ihm an, ohne seitdem ein einziges Wort mit ihm gesprochen zu haben. Sie hatten sich nicht sehen dürfen, während des Prozesses. Mehrmals hatte Louisa als Zeugin ausgesagt und auch, wenn sie sich kaum an eines ihrer Worte erinnern konnte, so spürte sie noch genau seine Blicke auf sich, während sie gesprochen hatte. Hin und wieder, so hatte sie es sich zumindest eingebildet, hatte er sogar gelächelt. Sie hatte ihnen allen die Wahrheit erzählt. Ihre gesamte Geschichte, nichts als die Wahrheit. Sie wusste, dass sie ihn damit ein Stück entlastet hatte. Und sie hatte in Jacobs Gesicht erkennen können, dass dies vor allem sein Gewissen betraf. Er war weder gut noch böse. Er war grau.

In der Zeit, in der Louisa sich bei ihren Eltern in Roseville erholte, hatte Alea erfolgreich ihre Abschlussarbeit beenden können. Sie hatten sich nicht allzu häufig gesehen, ein paar Mal war Alea dennoch mit Keksen, selbstgebackenen Muffins oder Blumen vorbeigekommen. Über das, was geschehen war, hatten sie kaum mehr gesprochen. Beide hatten sie sich in Ruhe von allem erholen müssen, die Ängste, Sorgen und den Schrecken verarbeiten müssen. Flüchtig sah Louisa zu Alea auf der anderen Seite des Gerichtssaals, sie verfolgte aufmerksam die Verhandlung. Sie war es gewesen, die Louisas Eltern informiert hatte. Und die von Anfang an ein richtiges Gespür für die Situation gehabt hatte. Jacob war zwischen beiden Mädchen bisher ein Tabuthema gewesen. Louisa wusste, dass sie sich Zeit nehmen musste, vielleicht einen gesamten Nachmittag, um Alea alle Details zu erzählen. Es würde für beide kein leichtes Gespräch werden.

Mit weichen Knien stand Louisa auf, als sich um sie herum ebenfalls alle erhoben hatten. Es konnte nur noch Sekunden dauern, bis alles vorbei war. Während sie sich an Colin abstützte, sah sie erneut durch den Gerichtssaal. Der Fall hatte für so viel Aufmerksamkeit gesorgt, dass der Saal bis auf den letzten Platz gefüllt war. Alea stand neben ihrer Mutter, diesmal trafen sich ihre Blicke. Sie nickte nur kurz auf Aleas fragenden Blick. Es ging ihr...okay. Nicht weit von Aleas Familie entfernt erkannte sie Taylor. Seine große und breite Gestalt streckte sich aus den sonstigen Anwesenden. Er sah angespannt aus, ebenso wie sein Vater neben ihm. Captain Brookstone hatte sie einige Male im Krankenhaus besucht, nachdem alles vorbei war. Sie hatte erst später von Alea erfahren, in welcher Verbindung er zu Jacob stand. Auch seine Frau und seine Tochter waren anwesend. Häufig hatte Jacob in ihre Richtung geschaut, das hatte sie registriert, während sie ihn stumm beobachtet hatte.

Neben den Brookstones stand die Familie von Ava Carter. Ihr Anblick löste immer wieder aufs Neue eine Gänsehaut auf Louisas Körper aus. Sie hatten ihre Tochter verloren und waren, wie manche der anderen Familien auch, als Nebenkläger aufgetreten. Bei dem Gedanken an ihre eigenen Eltern, die neben ihr standen, schluckte Louisa schwer. Sie war die einzige von allen, die überlebt hatte. Die Ausdrücke auf den Gesichtern der Carters waren hart. Es war sicher nicht einfach, sich im gleichen Raum aufzuhalten mit der Person, die ihre Tochter dem Tod ausgeliefert hatte. Höchstwahrscheinlich hatten sie keinerlei Verständnis für Louisas entlastende Aussagen gehabt, auch, wenn sie sich damals sicher gewesen war, Rührung in den Augen von Avas Mutter erkannt zu haben. Schnell nahm sie den Blick von Mrs. Carter. Ava war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.

Aus den Augenwinkeln sah sie, dass auch Dominic sich im Gerichtssaal befand. Immer wieder war er für die Verhandlungen nach San Francisco gereist um Louisa beizustehen, obwohl sie sich unmissverständlich dagegen ausgesprochen hatte. Nachdem sie zunächst überrascht über seine Zuwendung war, ekelte es sie umso mehr, dass sie offensichtlich nur seiner Sensations- und Neugier geschuldet war. Seine neue Freundin stand neben ihm. Irgendwo hatte Louisa sie schon einmal gesehen. Unter ferner liefen. Sie trug Prada. Als Louisa sich wieder nach vorne drehte, hatte der Richter gerade angesetzt, um das Urteil zu verkünden. Sie sah zu Jacob, der neben seinem Anwalt stand. Er wirkte angespannt. Es war seine Zukunft, über die nun entschieden werden würde. Sein Gesicht war ausdruckslos, er sah auf irgendeinen Punkt an der Wand ihm gegenüber. Im gesamten Saal war er offenbar der einzige, der alleine hier war. Niemand von seiner Familie war zur Unterstützung erschienen. Er musste sich alleine seinem Schicksal stellen. Sie schluckte schwer. Schau her, Jake. Möglicherweise konnte sie ihm irgendein stärkendes Gefühl geben. Oder brauchte sie selbst eins? Schau her. Aber er sah nicht her. Er erstarrte mit jedem Wort des Richters ein bisschen mehr. Stopp. Sie konnte sein Leid nicht ertragen. Litt er überhaupt? Oder litt sie? Möglicherweise konnte sie selbst die Situation nicht ertragen. Irgendetwas in ihrer Magengegend zog sich furchtbar schmerzhaft zusammen. Eine schwere Übelkeit breitete sich in ihrem Bauchraum aus. Sie spürte, wie ihr Herz anfing, ihr wild gegen die Brust zu schlagen. Großer Gott, sie würde sich gleich übergeben müssen.
„Entschuldige mich, Mum", sagte sie leise, während sie sich bereits an ihrer Mutter vorbeidrückte. Raus.

„Louisa, Kind, ist alles in Ordnung?" Sie nickte nur und kämpfte sich weiter durch die Besucher. Sie wollte nicht sprechen. Sie konnte nicht sprechen.
„Brauchst du uns?", fragte auch ihr Vater. Diesmal schüttelte sie nur den Kopf. Nein. Nur raus. Dann endlich hatte sie den Hauptgang erreicht und lief schnellen Schrittes auf den Ausgang zu, während der Richter weitersprach. Sie bemerkte, dass Alea ihr überrascht nachsah, aber sie drehte sich nicht um, sie hatte keine Zeit, sich umzudrehen. Stattdessen lief sie weiter, vorbei an den Brookstones, an Dominik und seiner Freundin und an den Carters. Deutlich spürte sie nun Jacobs Blick in ihrem Rücken. Aber sie musste hier raus.

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