03-Damals

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„Letzter Aufruf für den Flug nach Chicago, wir bitten alle verbleibenden Passagiere, sich zu Gate C390 zu begeben.", hallt eine mechanisch klingende Stimme durch die gewaltige Halle, die Terminal genannt wird. Harrys Schritte beschleunigen sich und sein Griff um den Henkel seines Koffers verstärkt sich. Sein Blick wandert durch die Menschenmenge, auf der Suche nach der richtigen Tür, durch die er zu dem Flugzeug gelangen kann, in das er schon vor einiger Zeit einsteigen hätte sollen. Das Gefühl in der Bauchgegend, dass er sich im Kreis bewegt und noch weit von seinem Ziel entfernt ist, verstärkt sich, woraufhin er frustriert stehenbleibt.

Durch seinen abrupten Halt knallt jemand in seinen breiten Rücken und er hört eine gereizte Stimme einer Frau hinter sich: „Kannst du aufpassen, du idiotischer Loser?"

Harry dreht sich schnell um und stammelt eine Entschuldigung vor sich hin, bis er schließlich verstummt und in das Gesicht eines Mädchens, das höchstwahrscheinlich in seinem Alter ist, blickt. Sein Gegenüber entspricht zwar definitiv nicht dem aktuellen Schönheitsideal und trotzdem fühlt er sich augenblicklich zu ihr hingezogen. Ihre Haarfarbe, die ihn an Blut erinnert, passt nur bedingt zu ihren bernsteinfarbenen Augen. Auch der schwarze Lippenstift, der ihre vollen Lippen verfärbt hat, verleiht ihr noch zusätzlich das Erscheinen eines Menschen, der nicht mit dem Strom schwimmt.

Das Mädchen hat einen grauen Pullover, der ihr mindestens zwei Nummern zu groß ist und ihren Oberkörper förmlich verschwinden lässt, und schwarze, zerrissene Jeans an. An ihren Füßen entdeckt Harry Stiefeletten, die kurz vor dem Zerfall sind und dennoch seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

„Sind deine Schuhe von Yves Saint Laurent?", stößt er hervor und hebt seinen Blick schließlich wieder, um in ihre Augen zu sehen. Sie verzieht den Mund zu einem breiten Grinsen und nickt schnell.

„Ich hätte nicht gedacht, dass ein Junge sich mit Schuhen auskennt. Aber das macht dich gleich noch viel attraktiver.", staunt sie und wäre Harry nicht so sehr von ihrer Schönheit geblendet, hätte er bemerkt, wie gekünstelt sie wirkt. Als wäre diese Situation ein Schauspiel, in der sie die Hauptrolle besetzt.

Doch er reibt sich nur verlegen mit einer Hand über den Nacken und murmelt: „Ich spare schon seit Jahren auf solche Schuhe, nur irgendwie kriege ich nie genügend Geld zusammen. Ich heiße übrigens Harry und du?"

Das Mädchen streckt ihre rechte Hand in seine Richtung und antwortet noch immer grinsend: „Maya. Maya Delaro." Mit einem schüchternen Lächeln auf seinen Lippen schüttelt er ihre Hand, die, wie er schnell bemerkt, eiskalt ist. Noch immer ihre Finger umklammernd forscht er neugierig nach: „Wohin musst du fliegen?"

„Ich weiß es noch nicht. Das entscheide ich ganz spontan.", gibt Maya ihm schulterzuckend zur Antwort und stellt ihm eine Gegenfrage: „Was ist denn deine gewünschte Destination?"

Schmunzelnd über ihre unübliche Wortwahl erklärt er ihr: „Ich muss eigentlich nach Chicago zu meinen Großeltern, aber ich verpasse sowieso meinen Flug." „Das heißt, dass du Zeit und Lust hättest, mit mir etwas essen zu gehen? Ich bin nämlich schon am Verhungern.", will sie wissen und sieht ihn abwartend an. Lächelnd nickt Harry, woraufhin das Mädchen sich abrupt in Bewegung setzt und ihn hinter sich herzieht.

Von ihren Aktionen überrascht braucht Harry einige Augenblicke, bevor er ihr hinterherstolpert, sein Koffer kippt beinahe um. „Warte doch, Maya. Müssen wir wirklich so schnell laufen?", keucht er, da er zusätzlich noch das schwere Gepäckstück ziehen muss. Ohne sich zu ihm zu drehen lässt sie ihn wissen: „Du hast lange Beine, daher kannst du locker mit meinen kurzen mithalten. Wenn dir mein Tempo zu hoch ist, kannst du gerne versuchen, deinen Flug nach Chicago noch zu erwischen."

Harry beschließt, den spottenden, zynischen Unterton, der in ihrer Stimme mitschwingt, zu ignorieren. Lächelnd bemerkt er, wie sich dennoch Mayas Schritte verlangsamen und somit wechselt er schnell das Thema: „Wie kannst du dir eigentlich solche teuren Schuhe leisten? Wie alt bist du eigentlich?"

„Ich bin 18 und ich habe einen Job, durch den ich mir unzählige Stiefeletten von Saint Laurent leisten kann, wenn ich will.", antwortet Maya und entreißt plötzlich ihre Finger aus Harrys unwillkürlich festem Griff, um ihre Hände in die Taschen ihres Pullovers zu stecken. Kalter Wind weht ihnen entgegen, als sie den Terminal verlassen und an die frische Luft treten. Sofern man die von Abgasen verschmutzte Atmosphäre frisch nennen kann und darf.

„Um welchen Job handelt es sich denn genau?", forscht Harry nach, die Neugierde in ihm wurde durch ihre Worte geweckt. Seine Familie ist nicht die wohlhabendste, er musste schon vor vier Jahren an den Wochenenden kleine Arbeiten erledigen, damit er sich neue Kleidung leisten konnte. Jetzt, im Alter von 18 Jahren, hofft er jeden Tag darauf, dass sein Gesangstalent endlich von einem mächtigen Manager erkannt wird und er seine Eltern von der Armutsgrenze wegziehen kann.

Doch bis dahin muss er idiotische Comics für eine Zeitung schreiben und illustrieren. Sich werktags von seinem gemeinen Boss anschreien lassen, da die Bilder, die er zeichnet, entweder zu langweilig oder zu trostlos sind.

Maya bleibt abrupt stehen, ihr Blick wandert über den riesigen Parkplatz, der sich vor ihnen erstreckt. Schließlich dreht sie sich zu ihm und erklärt ihm, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt: „Du musst einfach mit mir um die Welt reisen, Drogen transportieren und verkaufen. Oh, ich habe fast vergessen, dass du dich dabei nicht erwischen lassen solltest." „Warte was?", keucht Harry und sieht sie entgeistert an.

„Wenn du gute Arbeit leistest, kannst du dir bald einen ganzen Kleidungsschrank voller Yves Saint Laurent, Gucci, Louis Vuitton und was auch immer dein Herz begehrt leisten.", setzt das Mädchen unbeirrt fort und wendet ihr Gesicht Harry zu. Dessen Blick liegt nach wie vor auf ihr und sie zieht ihre Augenbrauen verwirrt zusammen. Ein schüchtern wirkendes Lächeln schleicht sich auf ihre schwarzen Lippen, als sie nachforscht: „Was ist denn los? Liegt die Grinsekatze auf meinem Kopf?"

„Meinst du das mit den Drogen ernst? Ist das nicht erstens illegal und zweitens gefährlich?", fragt Harry vorsichtig nach und räuspert sich anschließend. Er blickt eindringlich in ihr Gesicht, auf der Suche nach einem Anzeichen, dass sie nur scherzt. Dass sie jeden Moment schallend loslacht und ihn fragt, ob er ihr allen Ernstes geglaubt hat.

Doch ihre Miene bleibt todernst und sie nickt: „Klar kann es gefährlich werden. Aber ohne ein gewisses Risiko ist das Leben doch langweilig. Man würde nur auf den Tod warten, ohne einen Funken Adrenalin in deinen Adern."

Sie streckt wieder ihre rechte Hand in seine Richtung aus und ihre Lippen werden von einem leichten Lächeln geprägt. „Also, Harry Styles. Willst du endlich in die Welt der Reichen hineinschnuppern und an alle Ecken dieses Planeten mit mir reisen? Gib mir deine Hand und ich zeige dir, was es heißt, sich alles leisten zu können, was man will."

Misstrauisch starrt er auf ihre Finger, die in seine Richtung zeigen und nur darauf warten, in Kontakt mit seinen zu kommen. Er blickt kurz in ihr Gesicht und schluckt hörbar, bevor er nachfragt: „Was passiert aber, wenn ich verhaftet werde, mich die Polizei erwischt?"

„Ist das deine einzige Sorge? Du könntest überall hin, mit irgendwelchen Sängerinnen herumknutschen, weil du ihnen ihre Drogen lieferst und du hast Angst vor der Polizei?", redet Maya auf ihn ein und sieht auf ihre Hand, wartend darauf, dass Harry endlich einschlägt. Aufmunternd fügt sie hinzu: „Dein Leben ist langweilig und ich kann es spannend machen."

Noch Jahre danach ist Harry sich nicht sicher, was ihn schlussendlich doch dazu verleitet hat, trotz der Angst, die er in seinem Magen spürt, ihre Hand zaghaft in seine zu nehmen und somit seinen öden Alltag hinter sich zu lassen.

Prison / h.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt