Harry bewahrt einen gewissen Abstand, als er dem Mädchen durch die dunkle Seitengasse folgt. Noch einmal dreht er sich zu der enormen Lagerhalle, in der er sich noch vor einer Minuten befunden hat, und schluckt einmal schwer durch den Gedanken, was hinter den dicken Mauern passiert ist. Schließlich wendet er sich wieder Maya zu, die keine Rücksicht auf ihn nimmt und sich immer weiter von ihm entfernt. Sie hat die Kapuze ihres Pullovers über ihren Kopf gezogen und ihre Hände in den Taschen des Kleidungsstückes versteckt. Von weitem kann Harry sehen, wie sie am ganzen Körper zittert und ihre Haltung gekrümmt ist.
Er muss nicht in ihr Gesicht sehen, um zu wissen, dass Tränen sich ihre Wege über ihre Wangen bahnen.
„Maya! Kannst du ganz kurz auf mich warten?", ruft er ihr nach und überraschenderweise bleibt sie wirklich stehen. Dennoch dreht sie sich nicht um und spielt mit einem Fuß in dem Dreck auf dem Boden herum. Schnell joggt er zu ihr und stellt sich direkt vor sie, in der Hoffnung, dass sie ihn ansehen würde. Doch ihr Blick bleibt dem Untergrund zugewendet, Haare versperren ihm die Sicht in ihr Gesicht.
Zärtlich streicht Harry die Strähnen unter die Kapuze und hebt mit dem Zeigefinger ihr Kinn an. Sofort erkennt er in dem spärlichen Licht einer einzelnen Laterne, dass ihre Augen gerötet und mit Tränen geschmückt sind. Als würde er sie schlagen wollen, zuckt Maya vor seinen Berührungen weg und macht einen Schritt nach hinten.
„Wieso steigst du nicht aus der ganzen Sache aus? Du wirst an dem Druck, der auf dir lastet, zugrunde gehen.", murmelt er und obwohl er das zerbrechlich wirkende Mädchen vor sich am Liebsten ganz nah an sich drücken würde, hält er Abstand.
Maya zuckt mit den Schultern und setzt die Maske des tapferen, starken Mädchens auf. „Das ist nicht so einfach, wie du denkst. Ich kann nicht einfach kündigen und außerdem kann ich dich nicht alleine bei den bösen Männern lassen. Daran würdest du zugrunde gehen.", antwortet sie und atmet anschließend tief durch. Sie zwingt sich, ein Lächeln auf ihren Lippen zu platzieren und fügt hinzu: „Mir geht es gut, ich verspreche es dir."
Obwohl Harry ihr nicht abkauft, wie schnell sie sich von dem Ereignis in der Lagerhalle erholt hat, will er nicht länger auf dem Thema herumreiten. Er kennt sie zwar erst seit einigen Stunden, ist sich dennoch sicher, dass sie darauf beharren würde, dass es ihr gut geht, egal, wie sehr er nachforschen würde. Es ist, als würde sie innerhalb kürzester Zeit um ihre sensiblen, verletzlichen Punkte eine Mauer errichten können, die niemand niederreißen kann. Auch nicht Harry, trotz dem er nichts lieber machen würde, als hinter ihre mutige Fassade zu blicken.
Maya klopft ihm mit einer Hand auf die Schulter, um ihn aus seinen Gedankengängen zu holen, und schlägt vor: „Soll ich dich nach Hause bringen? Dein Tag war bestimmt anstrengend."
„Willst du eventuell noch etwas essen gehen? Mit mir?", fragt Harry mithilfe einer Welle des Mutes, die ihn überrollt. Allein durch ihren sich von ihm abwenden Blick sowie durch das Zögern ist er sich schon fast sicher, dass sie ihn abweisen würde. Das anfängliche Interesse an seiner Wenigkeit scheint innerhalb der Stunden, die sie sich bereits kennen, verschwunden zu sein. Daher überrascht es ihn, als sie schließlich dennoch lächelnd nickt und antwortet: „Aber du zahlst."
Unwillkürlich schleicht sich ein Grinsen auf sein Gesicht und er deutet ihr stumm, mit ihm mitzugehen. „Ich denke, dass ich mir das gerade noch leisten kann.", murmelt er und richtet sich die Haare aus Gewohnheit, obwohl sie noch immer perfekt liegen. Mitten in der Prozedur wird er spielerisch von Maya angerempelt und sie raunt: „Wenn du denkst, dass ich wenig esse, nur, weil ich klein und schmächtig bin, täuscht du dich gewaltig. Ich wette mir dir, dass ich mehr verdrücken kann, als du mit dem Taschengeld deiner Mami bezahlen kannst."
Im Gehen streckt sie eine Hand in seine Richtung aus um die Wette zu besiegeln. Schnell schlägt Harry ein, froh, dass sie mit ihm etwas unternehmen will. Denn nachdem er den Job angenommen hat, den er von ihr angeboten bekommen hatte, hat sie viel zu abweisend gewirkt. Als wäre er nur mehr ein Arbeitskollege, ein Mitarbeiter, mit dem sie illegale Geschäfte machen muss.
„Selbst, wenn du die Wette gewinnst, musst du zahlen. Mami hat mir nicht so viel mitgegeben, weil ich laut ihr immer das Geld aus dem Fenster werfe", scherzt Harry, wodurch er sogar ein lautes Lachen aus ihrem Mund locken kann. Maya hält sich eine Hand vor diesen und kneift für einige Momente die Augen zusammen, bevor sie sich wieder beherrschen kann und ein gekünsteltes Schmollen aufsetzt.
Sie streicht ihm über den Ärmel seiner Lederjacke und bemitleidet ihn neckend: „Du armes Kind, lass mich dich vertrösten. Bald kannst du Stripperinnen die Geldscheine um die Ohren werfen, oder was auch immer deine Fantasie mit der Kohle anfangen will."
„Meine Fantasie will das nur, wenn du die Stripperin bist.", zwinkert Harry ihr zu, bevor er sich zurückhalten kann. Da sie, überrascht von seinem schamlosen Flirten, lediglich stumm grinst, forscht er nach: „Hast du eigentlich einen Freund?"
Zu seiner Überraschung erfüllt ihr Gelächter seine Ohren und wirkt so ansteckend, dass auch er schmunzeln muss. „Ich tue mir so einen Blödsinn nicht an.", antwortet Maya schließlich, als sie sich wieder einigermaßen beruhigt hat.
Sie fährt sich mit dem Handrücken über ihre Augen, um die Tränen, die durch das Lachen entstanden sind, wegzuwischen. Um ihren Standpunkt zu verdeutlichen, fügt sie kopfschüttelnd hinzu: „Die meisten Männer heutzutage sind nur mehr darauf aus, aus einer Beziehung Profit zu ziehen. Die anderen sind viel zu schwer zu finden, daher begebe ich mich nicht einmal auf die Suche. Außerdem wäre mir das Ganze mit viel zu vielen Gefühlen verbunden und das kann ich nicht ausstehen. Da werde ich noch lieber von deinen Geldscheinen beworfen, während ich meine geheime Leidenschaft als Stripperin auslebe."
Schockiert von ihrem Standpunkt bleibt Harry stehen und starrt sie mit weit aufgerissenen Augen an. „Aber willst du nicht wissen, wie es sich anfühlt, von einer Person geliebt zu werden? Wie es ist, wenn sich jemand um dich kümmert und dir alles gibt, was du willst?", argumentiert er, doch schnell kontert sie: „Das Einzige, das ich will, ist Geld, womit ich mir alles kaufen kann, was mein kleines Herz begehrt."
„Was ist mit der Zärtlichkeit? Oder mit der Leidenschaft? Hast du kein Verlangen danach?", hinterfragt er sie und gestikuliert wie wild mit beiden Händen herum. Für ihn ist ihre Ansicht völliger Schwachsinn, nie könnte er sich vorstellen, eines Tages alleine zu sterben, ohne jemals geliebt zu haben.
Er sieht zu, wie sich ihr Gesichtsausdruck für einen kurzen Augenblick verändert und ihr Lächeln verschwindet, doch schnell hat sie wieder die Maske aufgesetzt und erklärt ihm: „Zärtlichkeit brauche ich nicht und wenn ich Lust darauf habe, mit jemandem zu schlafen, dann tue ich das auch. Falls du mit Leidenschaft Sex meinst."
Frustriert stößt Harry die Luft aus seinen Lungen und setzt sich wieder in Bewegung, woraufhin sie ihm schnell folgt. „Wieso bist du jetzt niedergeschlagen? Du musst dich nicht um meine nichtexistierenden Liebesangelegenheiten kümmern.", fragt sie nach und verschränkt tröstend eine ihrer Hände mit einer von seinen. Sie verteilt leichten Druck, wartend auf eine Antwort seinerseits. Schulterzuckend nuschelt Harry schließlich: „Eines Tages wirst du dich auch noch verlieben, dann wirst du wissen, wie wichtig Liebe ist."
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Prison / h.s
FanfictionHarry hat sie seit drei Jahren nicht mehr gesehen. In dieser Zeit war er auf der Flucht vor dem Rechtsstaat, den illegalen Geschäften, in die er von ihr hineingezogen wurde, und vor allem vor seiner Vergangenheit mit ihr. Nach all er der Zeit hat e...