05-Jetzt

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Als Harry aus seinem, viel zu kurzen, viel zu unruhigen Schlaf erwacht, hat er ein komisches Gefühl. Er spürt, wie eine Hand seinen rechten, von einem weißen Socken bedeckten Fuß massiert und langsam aber stetig immer weiter hinauf wandert. Noch unwillkürlich stöhnt er auf, genervt von der Berührung, die ihn aufgeweckt hat. Mit geschlossenen Augen zieht er die dünne Decke noch weiter zu seinem Gesicht und dreht sich um, sodass seine Vorderseite nun der grauen Wand zugewendet ist. Die warmen, langen Finger schleichen sich nun über Harrys Oberschenkel und drücken sich immer wieder in seine Haut.

„Hattest du schon jemals ein wenig Spaß mit einem anderen Mann?", raunt eine raue, tiefe Stimme direkt neben seinem Ohr, woraufhin Harry seine Augen blitzschnell aufreißt und sein Oberkörper sich von der Matratze löst, um senkrecht zu sitzen. Er blickt erschrocken in das Gesicht eines Mannes, wahrscheinlich einige Jahre älter als er, versehen mit einigen, kleinen Tattoos. Der ekelerregende Mundgeruch des Belästigenden steigt Harry in die Nase und bewirkt, dass er würgen muss.

Wieder spürt er die warme Hand, wie sie über sein bekleidetes Geschlechtsorgan fährt und zu seinem Hosenbund wandert. Noch gerade rechtzeitig verhindert der Braunhaarige, dass sich die große, warme Hand in seine Hose schleicht.

Gereizt und zugleich panisch drückt Harry den Mann weg von sich und springt abrupt auf. Seine Beine kommen, begleitet von einem dumpfen Knall, in Berührung mit dem Boden und als er den Mund aufmacht, klingt seine Stimme viel zu schrill: „Was soll das?" „Das erste Mal tut wahrscheinlich weh, aber du kannst mir vertrauen. Zier dich nicht so.", kontert sein Gegenüber und begibt sich auf Augenhöhe mit ihm.

Bevor der angsteinflößende Mann ihm etwas antun kann, lässt Harry sein rechtes Knie in die Höhe schnellen, woraufhin sein Gegenüber sich schmerzerfüllt zusammenkrümmt. „Du Bastard wirst dir wünschen, dass du dich von mir in den Arsch vögeln gelassen hättest.", zischt der Unbekannte, doch der Lockenkopf schenkt ihm keinerlei Aufmerksamkeit mehr, sondern drängt sich an ihm vorbei und verlässt mit schnellen Schritten die Zelle.

Harrys Atem verschnellert sich und er ist kurz vor dem Hyperventilieren. Er kann in seinen Ohren hören, wie das Blut durch das Adrenalin in seinen Adern pocht. Schon beinahe rennend nähert er sich dem Waschsaal, ein flaues Gefühl in seinem Magen drängt sich in den Vordergrund. Der Gedanke an Intimitäten mit Insassen, besonders mit einem ekeligen, gleichgeschlechtlichen, verursacht, dass er sich würgend zu einer Toilette kniet und mit all seiner Willenskraft versucht, seinen Mageninhalt dort zu lassen, wo er hingehört.

Während Harry sich mit beiden Händen an die Klobrille klammert und versucht, dessen mangelnde Sauberkeit aus seinen Gedanken zu verdrängen, spürt er abermals Hände auf seinem Körper. Doch dieses Mal sind es keine warmen, großen, die ihn dort berühren, wo er nicht berührt werden will. Er merkt, wie kalte Finger durch seine mittlerweile langen Haare fahren und diese aus seinem Gesicht halten.

„Du kannst dich ruhig übergeben, es sieht niemand außer mir zu und ich habe dir schon viel zu oft dabei zugeschaut, als dass es mich noch stören würde.", redet Mayas Stimme beruhigend auf ihn ein, während sie seine Locken mit einem dünnen, schwarzen Haarband zu einem Dutt zusammenbindet. Anschließend streicht sie ihm aufmunternd über den Rücken und fordert ihn auf: „Lasse es raus."

Wie auf Kommando erfüllen Harrys Würgegeräusche den leeren Waschsaal und ein unangenehmer Geruch breitet sich aus. Maya hält sich angewidert mit zwei Fingern die Nase zu und wendet ihr Gesicht ab, während sie ihm weiterhin gut zuredet: „Ist schon gut. Allzu viel solltest du nicht auskotzen können, du hast gestern dein Abendessen kaum angerührt."

Sein ganzer Körper zittert während er wieder und wieder seinen gesamten Mageninhalt in die Toilette entleert. Da er sich noch immer an die Klobrille klammert, treten mittlerweile seine Knöchel weiß hervor und seine Nägel kratzen hin und wieder über das Porzellan.

Schließlich richtet er sich auf und beugt sich über das Klo, um den Schalter zu betätigen, der die Reste des Essens vom Vortag in der Kanalisation verschwinden lässt. Er lehnt sich zurück und kuschelt sich unwillkürlich an Maya, die von hinten beide Arme um seinen Oberkörper schlingt und einen Kuss auf seinem Haaransatz platziert.

„Das war so ekelhaft. Seine Hände waren an meinem Schwanz.", keucht Harry und lockert endlich seinen Griff um die Klobrille. Er neigt seinen Kopf nach oben, um in ihr Gesicht zu sehen, das noch immer angewidert verzogen ist. Doch dies stört ihn nicht, er ist ihre Reaktion, nachdem er sich übergeben hat, noch immer von früher gewohnt.

Verwirrt zieht sie die rechte Augenbraue nach oben und fragt nach: „Meinst du Rodriguez? Einen Mann, Mitte 40, Tattoos im Gesicht? Falls ja, dann sollst du wissen, dass er das bei allen Neuen macht, obwohl ich ihm dieses Mal gesagt habe, dass er dich lieber in Ruhe lassen sollte. Der wird mächtig Ärger bekommen."

„Wieso?", haucht Harry und dreht sich so, dass er sie ungehindert anschauen kann. Nun runzelt Maya verwirrt die Stirn und neigt ihren Kopf leicht nach links. „Was meinst du damit? Du weißt, dass ich es hasse, wenn du in Hieroglyphen sprichst.", raunt sie und streicht ihm eine einzelne Strähne aus dem Gesicht, die zu kurz ist, um von dem Zopfgummi festgehalten zu werden.

Leicht lächelnd antwortet Harry: „Wieso spielst du mir gerade vor, dass du dich um mich kümmerst? Wir beide wissen, dass du mich verabscheust, weil ich mich nicht der Polizei gestellt habe und weggerannt bin."

„Ich hasse dich auch.", teilt sie ihm unverblümt mit und fügt schnell hinzu: „Trotzdem denke ich, dass du jetzt gerade Hilfe nötig hast."

„Was ist aber, wenn ich deine Hilfe nicht will?", fordert er sie heraus und rutscht von ihr weg. Abwartend zieht er beide Augenbrauen nach oben, während er zum ersten Mal seit Jahren wieder Emotionen in ihrem Gesicht erkennt. Endlich kann er hinter ihre Maske voller Macht blicken und sieht wieder das Funkeln in den bernsteinfarbenen Augen. Doch im Gegenzug zu früher ist das Glänzen nicht von Lust oder Freude geprägt, sondern von Wut.

Maya steht schnell von den kalten, dreckigen Fliesen auf und streicht sich ihre Kleidung glatt. „Wieso solltest du nicht wollen, dass ich dir das Leben im Gefängnis leichter mache?", hinterfragt sie, ihr ganzer Körper ist angespannt und strahlt Zorn aus.

Harry klammert sich an die Klobrille, um leichter auf die zittrigen Beine zu kommen, da ihm das Entleeren seines Magens noch immer tief in den Knochen liegt. Er zieht sich das Zopfgummi aus den Haaren und streicht sich diese anschließend einhändig nach hinten. „Weil du mir mein Leben schon ausreichend zerstört hast. Dank dir sitze ich jetzt hier fest, anstatt ein freier Mann zu sein, wahrscheinlich schon mit einer Frau, die mich aufrichtig liebt.", erklärt er ihr und spuckt die letzten Worte, die sie betreffen, schon förmlich aus. Währenddessen wirft der Mann ihr das Haarband direkt vor ihre mit schwarzen, festen Schuhen gekleideten Füße.

„Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass der Job sehr gefährlich ist, du wolltest ihn aber trotzdem. Gebe mir jetzt nicht die Schuld an deiner Entscheidung. Außerdem habe ich keine Lust, über die sogenannte Liebe zu reden. Du kennst meinen Standpunkt, der sich nicht durch ein Wunder innerhalb der letzten drei Jahre verändert, dazu.", kontert Maya zischend, während sie sich rückwärts von ihm entfernt. Gereizt wirft Harry die Arme in die Höhe und schreit sie an: „Du hast mich in deinen Bann gezogen, ich konnte nicht mehr klar denken, als du mir das Angebot gemacht hast. Spiele nicht die Unschuldige!"

Kopfschüttelnd wendet sie ihren Blick von ihm ab und raunt, gerade noch hörbar für ihn: „Du hast dich leider gerade für deine persönliche Hölle entschieden, in der ich der Teufel bin. Die Spiele um Leben und Tod haben soeben für dich begonnen." Mit diesen Worten lässt Maya ihn fassungslos in dem Waschsaal zurück, ihre Drohung hallt immer wieder in seinen Ohren. Er starrt auf die Tür, durch die sie gegangen ist und sein Sichtfeld verlassen hat, hoffnungslos darauf wartend, dass sie wieder zurückkehrt. Doch lediglich zwei dünne Männer betreten den Raum und beäugen ihn skeptisch und angewidert, der Geruch von Kotze hängt noch immer an ihm.  

Prison / h.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt