09-Damals

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„Harry, du musst dich sofort beruhigen. Du fällst schon mit deinem Verhalten negativ bei der Security auf.", zischt Maya und streichelt ihm, augenscheinlich liebevoll, über den Oberarm. Ihr Blick wandert durch den großen Raum, in dem sich diverse andere Menschen befinden, allesamt warten sie auf ihre Gepäcksstücke. Doch in keinem befindet sich so eine wertvolle Ware wie in Harrys und Mayas. Keiner der anderen Passagiere hat soeben Drogen über die kanadische Staatsgrenze geschmuggelt und befindet sich nur mehr einen Schritt vor der Erleichterung, dass sie nicht erwischt wurden.

Gestresst fährt er sich durch die Haare und zieht an den Spitzen, bevor er seufzend die Luft aus seinen Lungen stößt. Er lässt seinen Blick durch den Saal wandern und sieht schließlich zu den vier Security-Beamten, die gelangweilt an eine Wand neben dem Ausgang stehen.

„Wie soll ich bitte ruhig bleiben?", fährt er sie unwillkürlich viel zu laut an, woraufhin die Personen neben ihnen sich neugierig und erschrocken zu ihm drehen. Harrys Augen weiten sich, da ihm sofort bewusst wird, dass er einen Fehler begangen hat. Ein Fehler, vor dem Maya ihn gewarnt hat.

Für ihn scheint schon alles verloren. Die Security würde ihnen auf die Schliche kommen und Harry würde gleich bei seinem ersten Auftrag verhaftet werden. Er würde seine Familie enttäuschen, weil er Drogen schmuggeln wollte. Panik macht sich ihn ihm breit, als die Menschen um ihn herum noch immer nicht ihre Blicke von ihm abwenden und ihn weiterhin anstarren. Sein Puls wird immer schneller und er kann schon das Blut in seinen Ohren rauschen hören. Die Atemstöße, die aus seinem Mund kommen, ähneln dem Hyperventilieren, da er noch nie mit Stress besonders gut umgehen konnte.

Bis Maya seine warme, große Hand in beide ihrer kalten und kleinen nimmt und ihm einen Kuss auf die Wange drückt. Laut genug, damit sie jeder, dessen Aufmerksamkeit auf ihnen liegt, hören kann, tischt sie eine Lüge auf, ohne mit der Wimper zu zucken: „Ach, Schätzchen. Unserem Baby wird es schon gut gehen, meine Eltern können gut mit Kleinkindern umgehen und auf sie aufpassen."

„Unser Baby.", murmelt Harry ungläubig, da er mehrere Momente braucht, um ihre Aussage zu verstehen. Er öffnet den Mund, um etwas zu sagen, da legt Maya ihre Lippen auf seine und platziert beide Handflächen auf seinen Wangen, damit er ja nichts von sich geben kann, was die beiden in Schwierigkeiten bringen könnte. Seine Gedanken vernebeln sich, er kann sich nur mehr auf den Kuss konzentrieren. Ihr Geruch nach Äpfeln und einer Sommerwiese dringt in seine Nase. Seine Finger fahren über ihre Daunenjacke hinauf zu ihren Haaren, die sie zu zwei Zöpfen geflochten hat.

Doch als sie sich wieder von ihm löst und ihr Mund sich seinem linken Ohr nähert, wird er abrupt wieder in die Realität zurückgeholt mit ihrer gefühlskalten Stimme: „Beherrsche dich wieder, fast wären wir erwischt worden. Ich habe keine Lust, dir noch einmal den Arsch retten zu müssen." „Ich liebe dich auch, Baby.", spielt er in ihrem Schauspiel für die Menschen um sie herum mit und drückt noch einmal seine Lippen auf ihre. Einerseits, um den trügerischen Schein aufrecht zu erhalten. Andererseits, um sie wieder zu spüren und sich besser vorstellen zu können, dass sie ihn nicht nur benutzt, um Drogen zu schmuggeln.

„Entschuldigen Sie die unverschämte Frage, aber sind sie nicht ein wenig zu jung für ein gemeinsames Kind?", ertönt plötzlich eine Stimme direkt neben dem scheinbar verliebten Paar, welches sofort auseinanderschreckt. Ein Mann mittleren Alters steht nur wenige Schritte von ihnen entfernt, seine Arme verschränkt und eine Augenbraue misstrauisch nach oben gezogen. Aufmerksam sieht die einzige weibliche Wache zu ihnen, als würde auch sie hinter die Lüge blicken können.

Gespielt empört stemmt Maya eine Hand in ihre Hüfte und fährt den Fragenden an: „Entschuldigen Sie, aber haben sie noch nie etwas von wahrer Liebe gehört?"

„Meines Wissens nach muss wahre Liebe nicht gleich ein Kind hervorbringen.", kontert der Fremde mit einer nach oben gezogenen Augenbraue. Seine Lippen spitzen sich amüsiert, als die beiden Jüngeren stumm bleiben. Scheinbar erblickt er in genau diesem Moment seinen eigenen, schwarzen Koffer und holt diesen vom Rollband.

Er stellt das Gepäckstück auf den Boden rechts neben sich und sieht ein letztes Mal zu den Jugendlichen. „Wenn Sie unbedingt so neugierig sein müssen, dann sollen Sie auch wissen, dass ein geplatztes Kondom schuld daran ist. Dennoch lieben wir unser Baby, als wäre es geplant gewesen.", redet Maya plötzlich unverblümt los und umfasst mit beiden Händen Harrys Oberarm, während sie den Kopf auf seiner Schulter ablegt.

Schlagartig färben sich nicht nur die Wangen des Mannes, sondern auch die des Jungen, rot und der Fremde räuspert sich peinlich berührt. „So genau wollte ich das nicht wissen.", murmelt er, während er sich von dem Paar abwendet und mit schnellen Schritten den Saal verlässt. Noch immer ist das Gepäcksstück von Maya nicht in Sicht und somit hat sie noch genügend Zeit, um den Mann anzumotzen: „Dann hätten Sie lieber nicht gefragt."

Sie dreht sich wieder zu Harry, der sie mit gemischten Gefühlen anblickt, und erklärt ihm: „Sobald unser Koffer angekommen ist, suchen wir uns ein Hotel für die Nacht. Ich kenne in der Nähe ein paar ziemlich edle Unterkünfte." „Mit welchem Geld?", fragt er misstrauisch nach, während er die Augenbrauen zusammenzieht.

„Weißt du gar nicht, dass wir pro Koffer eine Unmenge von Kohle verdienen?", stellt sie eine Gegenfrage und legt ihre Handflächen auf seine Brust. Automatisch schlingen sich seine Arme um ihre Taille, um sie näher zu sich zu ziehen. Er schüttelt seinen Kopf und bevor er sie wieder küssen kann, teilt sie ihm mit: „Du könntest dir endlich deine Yves Saint Laurent Stiefeletten kaufen. Oder vielleicht auch zwei, wenn du willst. Noch dazu kannst du mich in ein nobles Restaurant einladen."

Unwillkürlich zieht sich einer seiner Mundwinkel nach oben zu einem schiefen Grinsen, wodurch die Grübchen in seinen Wangen deutlich sichtbar werden. Mayas Blick fixiert sich auf diese, während er nachfragt: „Du meinst wohl, dass du hungrig bist und ich dir Essen besorgen soll. Habe ich recht oder stimmt meine Vermutung?" „Es wundert mich ja, dass du während des Fluges nicht gehört hast, wie mein Magen nach Nahrung geschrien hat.", grinst sie ihn an und sieht kurz zu ihrem Bauch hinunter.

Doch blitzartig schnellen ihre Augen wieder nach oben, als sie aus dem Augenwinkel einen roten Koffer entdeckt. Sie löst sich von Harry und rennt auf das Gepäcksstück zu, um es an sich zu reißen. Mit schnellen Schritten zieht sie es hinter sich her und packt im Gehen Harrys Hand. Sie zieht ihn wortlos aus dem Flughafen, vorbei an zahlreichen Menschen, die auf andere warten. Niemand achtet auf die zwei, während sie, etwas abgelegen, sich in die Arme fallen und wie ein Mantra wiederholen: „Wir haben es geschafft!"

Für Maya ist der Transport von Drogen zwar schon Routine, doch für Harry ist es das erste Mal, dass er das Gesetz gebrochen hat. Zum ersten Mal kann er in ernsthafte Schwierigkeiten geraten, doch das interessiert ihn nicht. Denn er kann sich endlich die Stiefeletten kaufen, von denen er schon so lange träumt. Außerdem befindet sich ein Mädchen an seiner Seite, von dem er nicht mehr genug bekommen kann. Von ihr und ihren Spielchen, die sie mit ihm spielt.

Prison / h.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt