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Harrys erste Schicht in der Reinigung vergeht quälend langsam, nachdem einer der Wärter ihn eingearbeitet hat. Immer wieder gleitet sein Blick zu dem Tisch, an dem Maya steht und getrocknete Kleidung zusammenfaltet, wodurch er sich immer wieder an vergangene Ereignisse erinnert. Wie sich ihre Beine automatisch um seine Hüfte geschlungen haben und wie sie ihre Finger in seinen Haaren vergraben hat. Ihr zartes Stöhnen, das den ganzen Raum erfüllt hat.

Ihre beiden Körper, die sich wie zwei Puzzleteile aneinandergefügt haben.

Doch seitdem Maya den Wärter gerufen hat, um den Lockenkopf offiziell einstellen zu können, hat sie kein weiteres Wort mit ihm geredet. Würde sie ihm gelegentlich Blicke zuwerfen, hätte er gedacht, dass er unsichtbar geworden ist.

Daher verschwindet Harry aus dem Raum, sobald eine Art Wecker das Ende der Arbeitszeit besiegelt hat. Er hat bereits nach einem halben Tag genug von den beigen und grauen Kleidungsstücken. Doch ohne den minimalen Lohn kann er nicht seine Mutter kontaktieren und wieder gewissermaßen an ihrem Leben teilhaben – und erfahren, weshalb seine Schwester in der Psychiatrie gelandet ist.

Hinter sich hört der Mann Mayas Schritte, aber er wartet nicht auf sie. „Ich finde es wirklich nicht ok, dass du mich ignorierst, nachdem ich dich zwischen meine Beine gelassen habe", ruft sie ihm nach, die anderen Insassen in dem Gang ignorierend.

„So ist nun mal das Leben. Hast du dir jetzt die heile Welt zwischen uns vorgestellt?", gibt Harry ihr Konter und dreht sich ihm Gehen zu ihr um. Sie befindet sich nur wenige Schritte von ihm entfernt und sieht ihn schmollend an.

„Du zerstörst meine Hoffnung auf eine Gefängnishochzeit", raunt sie und schluchzt gespielt auf. Mit einer Hand fasst sie sich ans Herz, mit der anderen wischt sie sich unsichtbare Tränen von den Wangen. Dies entlockt ein leises Lachen aus dem Mund des Lockenkopfes und auch Maya grinst ihn breit an.

Sie hält die rechte Hand hoch und tippt sich mit dem linken Zeigefinger auf ihren Ringfinger und singt leise: „'Cause if you liked it, then you should have put a ring on it." „Du vergisst gerade, dass das Lied Single Ladies heißt und du auch single bist und bleibst", spottet Harry zwinkernd und dreht sich um, um die Kantine zu betreten.

Der Saal ist bereits fast zur Gänze mit Insassen gefüllt, die an den Tischen sitzen und teils still ihr Mittagessen zu sich nehmen, teils unterhalten sie sich miteinander. Die Schlange vor der Essensausgabe ist klein, als Harry sich hinter einem breit gebauten Mann anstellt.

„Früher wärst du ohne zu zögern vor mir niedergekniet und hättest mir einen Ring ins Gesicht gehalten", murmelt Maya und lehnt sich gegen die Metallstäbe, die eigens für Tabletts vor der Glasvitrine, hinter der sich das Essen befindet, montiert wurden.

Mit einem stummen Nicken begrüßt Harry Frau Tarassow, die ihm leicht lächelnd sein Mittagessen auf ein Tablett gibt. „Ich habe noch ein wenig Rattengift in der Küche, falls sie dich nicht in Ruhe lässt", witzelt sie und deutet mit dem Kochlöffel auf Maya.

„Wahrscheinlich werde ich das Angebot annehmen müssen, um diese nervige Klette loszuwerden", teilt der Lockenkopf der älteren Dame mit und nimmt ihr das Tablett ab. Links neben ihm räuspert sich die Rothaarige und meldet sich: „Ich stehe direkt neben dir und höre jedes Wort, das du über mich sagst."

Harry grinst sie mit geschlossenem Mund an und wendet sich von ihr ab. „Das ist auch gut so", ruft er ihr über die Schulter zu und macht sich auf den Weg zu dem Tisch, der in den letzten Tagen zu seinem Stammplatz geworden ist.

Schon von weitem sieht er seine Zellengenossen sowie die drei Frauen, die einen Sitz freigehalten haben, heute in ihrer Mitte. Fröhlich winkt Samira ihm zu, sobald sie ihn erblickt hat, woraufhin sich alle anderen zu ihm drehen. „Ich dachte, dass die Sache mit dem Job in der Reinigung eine Falle war und ich nur mehr deine Leiche zu sehen bekommen würde", begrüßt Ian ihn und prostet ihm mit seinem Plastikbecher zu.

Prison / h.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt