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Den Blick auf den Boden vor sich gerichtet durchquert Harry mit einem Tablett voller ekelerregendem Essen in den Händen die Cafeteria. Sein Ziel, der hinterste Tisch, ist nur mehr wenige Meter entfernt, wodurch er aufsieht und die drei Frauen erblickt. Sie haben ihm, seitdem er im Gefängnis angekommen ist, jede Mahlzeit Gesellschaft geleistet und dafür ist er dankbar.

„Guten Abend, Ladys", begrüßt der Mann sie lächelnd und lässt sich links neben Alice nieder. Diese nickt ihm wortlos zu, da sie soeben einen Bissen des Essens zu sich genommen hat.

Gegenüber von ihm schiebt Samira das Tablett von sich weg und beginnt, auf ihn einzureden: „Hast du von dem Vorfall im Besucherraum gehört? Irgendeine Irre wollte sich auf Maya stürzen, Tarassow hat es mir erzählt. Die weiß echt alles, du könntest über ihr Essen lästern und fünf Minuten später droht sie dir mit einem Messer."

„Schade, dass ich nicht dabei war. Ich wollte schon immer zwei Frauen kämpfen sehen, hat sicher etwas Geiles an sich", kommentiert Tessa und greift sich mit der rechten Hand an ihre Brüste, während sie mit den Augenbrauen wackelt. Peinlich berührt sieht Harry auf das Tablett vor sich, seine Wangen glühen bereits.

Belustigt stößt Alice ihn an der Schulter an und neckt ihn: „Wenn du etwas gegen lesbische Fantasien hast, solltest du dir sofort einen anderen Platz suchen. Wir haben uns die ersten Male zurückgehalten, aber jetzt wirst du jede Mahlzeit mindestens ein homosexuelles Gesprächsthema zu hören bekommen."

„Darum geht es nicht", murmelt Harry und greift nach der Gabel, um mit dieser einen Happen Reis zu seinem Mund zu führen. Er kaut das viel zu trockene Getreide sorgfältig durch und nimmt sich währenddessen Zeit, sich in der Kantine umzusehen.

Aus der Ferne erkennt er Frau Tarassow, deren orange Haare unter einem Haarnetz versteckt sind. Sie steht, an einer Wand gelehnt, vor dem Eingang zur Küche, ihre Arme sind verschränkt. Auch ihr Blick gleitet über die essende, plaudernde Menge, als ob sie nach irgendjemandem suchen würde.

Ruckartig wird Harry mit seinen Gedanken wieder an den Tisch zu den drei Frauen geholt, als die dunkelhäutige ihn mit einem Fuß anstößt. „Worum geht es dann? Hast du Angst, dass deinem Drachen etwas passiert sein könnte? Da kann ich dich beruhigen, ich habe sie schon wieder im Gemeinschaftraum gesehen, wie sie sich an eine Wache rangemacht hat", fragt Samira unwissend nach und macht am Ende des letzten Satzes ein Würgegeräusch.

„Dieses Mal war es Murphy, richtig ekelhaft. Der könnte ihr Vater sein, so alt ist er", fügt Tessa augenverdrehend hinzu.

Harry schluckt den zerkauten Reis gezwungenermaßen hinunter, bevor er murmelt: „So genau will ich das gar nicht wissen." „Wieso benimmst du dich dann so komisch? Wenn es weder wir Lesben, noch Daddy Murphy ist, was ist dann falsch?", kontert die Blonde neben ihm.

„Die Frau, die Maya angegriffen hat, war meine Mutter", teilt der Mann ihnen peinlich berührt und mit knallroten Wangen mit. Kurz entsteht Stille an dem Tisch, bevor die drei Frauen lauthals loslachen.

Zwischen Gelächter bringt Samira hervor: „Dann ist das Ganze ja noch lustiger." „Mamabär fährt die Krallen aus", kommentiert Tessa, die sich am schnellsten wieder beruhigt hat und sich soeben die Tränen aus den Augen wischt. Sie fährt sich durch ihre lockigen, wirren Haare und kichert leise: „Hast du ein Foto von deiner Mama? Ich würde mir das gerne bildlich vorstellen können."

„Meine Mum wird bestimmt nicht Mittelpunkt deiner sexuellen Fantasien", raunt Harry und schiebt sich erneut Reis in den Mund. Denn diese Beilage ist das einzige auf dem Tablett, das er anrühren will. Bei der braunen Soße, in der harte Stückchen schwimmen, ist er sich nicht sicher, was sie darstellen soll.

Prison / h.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt