15. Kapitel | Vermissen

1.5K 119 25
                                    

­­Everything will be alright if you keep me next to you


Diese Sonnenuntergänge, an denen der Himmel sich in orangerot tauchten, waren wahrscheinlich auch nur ein Mythos. Stegi starrte die Wolkendecke an, die sich in der vergangenen halben Stunde von grau in ein noch dunkleres Grau gewandelt hatte, ohne, dass man auch nur einen Hauch von Farbe hätte erahnen können.

„Wir sehen uns morgen", verabschiedete Tim sich aus dem Flur heraus.

„Wenn du bis dahin deine Niederlage überwunden hast", gab Stegi zurück. „Nachdem Max dann keine Lust mehr hatte, hast du wirklich absolut versagt."

„Nur aus Freundlichkeit."

„Natürlich."

„Nicht, dass du noch irgendwelche Tasten aus der Tastatur haust oder so", lachte Tim und zog die Tür zu. Stegi sah sie noch einen Moment an und überlegte, ob er morgen mal erwähnen sollte, dass bei ihm tatsächlich schon zwei Tasten den Geist aufgegeben hatten. Vermutlich wäre das eher unklug und Tim würde nur ewig drauf herumreiten.

Für Stegis Geschmack lag Tims Haus viel zu weit von der S-Bahn-Station entfernt. Mochte zwar den Luxus bringen, dass man die Bahn nicht hörte (und spätabends und nach Fußballspielen höchstwahrscheinlich weniger Betrunkene durch die Straße taumelten), aber an sich fielen ihm nur Nachteile ein. Da musste man ja ewig schleppen, wenn man etwas in der Stadt gekauft hatte und jeden Morgen vor der Schule viel zu früh losgehen. (Vielleicht erklärte das auch, warum Tim meistens die Bahn vor Stegi nahm – Falls er sich auf dem Weg zu viel Zeit ließ und die erste Bahn verpasste, gab es immer noch eine zweite.)

Immerhin hatte es aufgehört, zu regnen. Der Bürgersteig war übersäht von Pfützen und Stegi entschied sich nach dem dritten Mal, bei dem er in eine getreten war, auf die ausgestorbene Straße auszuweichen. Eine Katze, die dort saß, sprang auf und rannte aufgeschreckt in einen Garten – Vielleicht die, die er heute Nachmittag schon gesehen hatte, aber es war schwer zu erkennen. Es wurde langsam dunkel, und die Laternen am Straßenrand waren nicht angeschaltet.

Nach einer gefühlten Ewigkeit stand er endlich neben den Gleisen der S-Bahn-Station – Außer einer älteren Frau war niemand zu sehen. Wahrscheinlich einfach die falsche Zeit, um noch in Richtung Stadtmitte zu wollen, zu spät für einen Stadtbummel und zu früh zum Feiern.

Stegi kramte Kopfhörer und Handy nach draußen und hatte gerade die Musik angemacht, als er sich erinnerte, dass er schließlich noch eine Nachricht hatte. Gerade war seine Laune eigentlich absolut in Ordnung gewesen; jetzt rutschte sie gerade in den Keller.

Tim hatte ja Recht, er konnte eh nicht davor weglaufen. Also öffnete er die SMS seiner Mutter – Aber anscheinend war die Antwort auf seine Frage nicht das einzige gewesen, was sie ihm geschickt hatte. Zehn ungelesene Nachrichten.

Die meisten davon bestanden aus derselben Aussage – Wo bleibst du?

„Fuck", murmelte Stegi. Daran sollte man vielleicht auch mal sorgen, jedenfalls, wenn man Eltern hatte, die es kümmerte, wenn ihr Sohn ewig lange nach Schulschluss nicht aufkreuzte. Schnell tippte er eine Antwort (wahrscheinlich zwei Stunden zu spät), in der er erklärte, wo er gewesen war, dann hielt die Bahn vor ihm, er ließ sich auf den erstbesten Platz fallen und drehte die Musik noch etwas lauter.

Vor ihm schimpfte jemand, weil er die aussteigenden Leute behindert hatte oder so etwas, und tatsächlich stieg hier ein ganzer Haufen Leute aus. Feierabendverkehr, fiel ihm ein. Vielleicht war Tims Mutter auch dabei, denn immerhin arbeitete die ganztags in irgendeinem Bürogebäude am Stadtrand – Für ein paar Sekunden ließ Stegi seinen Blick über die Menge schweifen, aber er hätte sie ja nicht einmal erkannt, wenn sie direkt vor ihm gestanden hätte.

Tropfen im Meer  [Stexpert]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt