57. Kapitel | Am Anderen Ende

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I still get a little scared of something new, but I feel a little safer when I'm with you

Tim hatte seinen Laptop auf dem Schoß und schnitt an dem Schulprojekt-Video, von dem Stegi irgendwann mal ein Teil gewesen war. Jetzt beobachtete er ihn nur noch dabei: Wie er fluchte und hundert unklar benannte Clips durchsuchte, aber trotzdem nicht den fand, den er brauchte.

Stegi hatte angeboten, ihm zu helfen, aber Tim hatte sich geweigert, weil Stegi schon genug Stress hätte. (Er hatte sich aber von ihm ein anderes Programm empfehlen lassen als das, was die Schule nutzte.) Also saß Stegi jetzt neben ihm auf dem Bett, leise Musik im Hintergrund spielend, und trommelte mit den Fingern auf die Matratze.

„Du kannst auch jetzt telefonieren und ich gehe raus."

Stegi schüttelte den Kopf. „Alles gut." Hier im Zimmer stand alles voll: Tims halb ausgekippter Koffer auf dem Boden, seine eigenen Klamotten, diverse Kleinigkeiten. Er hatte das Gefühl, dass das hier ein Gespräch sein würde, bei dem er Laufen wollte – Es war beruhigend, beim Telefonieren nicht stillzusitzen. „Habe ich schon mal erwähnt, dass ich Anrufe hasse?"

„Das ein oder andere Mal, ja."

Stegi lächelte schwach. „Ich glaube, ich rufe sie einfach an. Wenn mein Handy ausgeht, ist das so." Als sie nachhause gekommen waren, hatte Stegi angefangen, es zu laden, und der Akku sollte inzwischen ein Telefonat durchstehen. „Oder?"

„Hey, es ist dein Anruf. Und ich denke, das ist eine gute Idee."

In der Zwischenzeit hatte Lucy zweimal versucht, ihn anzurufen, und ihm eine Nachricht geschickt: Also ist dein Handy tot? Er hatte so getan, als hätte er sie noch nicht gelesen. „Wünsch mir Glück."

„Daumen sind gedrückt." Um das zu unterstreichen, hielt Tim eine Hand hoch.

Es würde noch dauern, bis seine Eltern nach Hause kamen, und so konnte er ungestört in den Flur gehen und seine Schwester anrufen. Er betete bloß, dass sie rangehen würde: Vielleicht war der Zug zu laut, um zu telefonieren? Oder sie steckte wieder im Funkloch?

Es dauerte gefühlt ewig, bis sie abnahm. Stegi hatte bereits angefangen, Kreise im Wohnzimmer zu laufen. „Du hast Glück", war das erste, was sie sagte, und Stegis Herz stand für einen Augenblick still. „Ich warte grad am Bahnhof auf den nächsten Zug. Hat Verspätung."

„Hi", brachte er heraus, bevor das Schweigen unangenehm wurde. „Hast du den Brief gelesen?"

„Ja." Im Hintergrund redeten Leute, ein Zug fuhr gerade ein; lautes Quietschen der Bremsen übertönte ihre Stimme fast. „Du hast mich fast zu Tode erschreckt, weißt du? Als ich deine Nachricht gelesen habe, habe ich mir sonst was ausgemalt."

Stegi hätte sie schlagen können dafür, nie zum Punkt zu kommen. „Und?"

„Ich dachte, du erzählst mir, du hast jemanden umgebracht oder eine unheilbare Krankheit oder so."

„Was meinst du zu der Nachricht?", fragte er, seine Schritte beschleunigend. „Also, zu dem Inhalt."

„Dass du bi bist?"

Was denn sonst?, dachte Stegi, sprach es aber nicht aus. „Ja."

„Das ist cool."

Er fühlte eine riesige Last von seinen Schultern abfallen; eine Last, von der sich nicht mal bewusst gewesen war, dass er sie getragen hatte. Das leichte Zittern in seinen Armen – Warum war er nochmal so nervös gewesen? – verschwand, er fühlte sich plötzlich wahnsinnig erschöpft. Ein Teil von ihm fand das lächerlich, der andere war einfach nur erleichtert. „Gut", antwortete er nach ein paar Sekunden, unsicher, was er antworten sollte, und lachte über die unangenehme Situation. „Ja, gut."

Tropfen im Meer  [Stexpert]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt