56. Kapitel | Eiseskälte

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Help me turn ofthe lights, calm down my obsessed mind


Er hätte den Brief einfach oben in Lucys Tasche stecken sollen oder ihn ihr direkt persönlich geben sollen. Stattdessen hatte Stegi ihn am Morgen ganz unten versteckt, unter diversen Büchern, und er wusste nicht, wann sie auspacken würde.

Er hätte sich verfluchen können. Ihr Zug war vor zwei Stunden gefahren, und natürlich hatte sie den Brief noch nicht gelesen – Wie sollte sie auch? Trotzdem warf er alle zehn Minuten einen Blick auf sein Handy, nur, um zu schauen.

Nicht einmal Tim schaffte es, ihn abzulenken. Sie saßen im Wohnzimmer auf dem Sofa, im Hintergrund lief Netflix, und Tim hatte den Arm um seine Schulter gelegt. Trotzdem drehten seine Gedanken sich nur um eine Frage: Was würde passieren, sobald Lucy zuhause war?

Der Gedanke allein ließ sein Herz rasen, nicht auf die gute Art. Ein Gespräch wäre immerhin vorbei gewesen. So hatte er keine andere Wahl, als mit dem Fingern auf dem Sofa zu trommeln und zu versuchen, sich mit Stranger Things abzulenken.

„Alles in Ordnung?", fragte Tim, als Stegi den Kopf auf seiner Schulter ablegte.

Für ein paar Sekunden erwog er, Ja zu sagen, oder Ich bin nur müde, aber es war offensichtlich, dass etwas nicht stimmte. „Es ist nur die Sache mit Lucy." Stegi seufzte, wartete kurz auf eine Antwort von Tim, aber sie blieb aus. „Ich weiß, dass sie es noch nicht wissen kann, aber – Was, wenn sie den Brief doch schon gelesen hat und sich nicht bei mir meldet, weil sie das so furchtbar findet? Was, wenn sie mich anruft und ich grade nicht rangehen kann? Oder sie denkt, es ist nur ein Scherz, oder -"

„Du denkst zu viel." Tim legte den Kopf schief. „Ich glaube, du brauchst eine Ablenkung."

„Darum schaue ich ja Netflix!"

„Eine bessere."

Ergebend seufzend schloss Stegi die Augen. „Schlag was vor."

Für ein paar Sekunden überlegte Tim. Seine Finger strichen dabei durch Stegis Haare, langsam und vorsichtig. „Wir könnten in die Stadt gehen", schlug er vor.

„Es ist Sonntag."

„Nur schauen." Tim zuckte mit den Schultern. „Einfach rumlaufen. Vielleicht entdecken wir ja was spannendes."

Stegi seufzte. Es stimmte: Netflix konnte ihn nicht genug ablenken, und sich die Beine zu vertreten, konnte auch nicht schaden. „Nur, wenn ich mir einen Hoodie von dir leihen kann. Es ist kalt."

„Und deine Hoodies sind nicht warm?" Tim grinste und ließ von Stegis Haaren ab. „Aber wenn du mich aufstehen lässt, tue ich dir den Gefallen."

Stegi rollte mit den Augen – Tim wusste doch genau, dass es nicht nur um die Wärme ging –, setzte sich aber auf, so, dass Tim die Sachen holen konnte.

Nur wenig später saßen sie in der Straßenbahn Richtung Innenstadt. Zuerst hatte Tim für Laufen plädiert, aber es war wirklich kalt, und zu Fuß dauerte der Weg eine Stunde. (Oder, besser gesagt: Google Maps behauptete, der Weg würde eine Stunde dauern. Stegi hatte bisher nicht die Motivation gefunden, dies auch nachzuprüfen.) Nervös beäugte Stegi die Tür: Er hatte seine Monatskarte, aber beide weigerten sich, unverschämt Geld für ein Einzelticket für Tim auszugeben.

Die Ärmel von Tims Hoodie waren so lang, dass Stegis Hände darin verschwanden. Grinsend demonstrierte er dies, und Tim lächelte. „Wenn man eben klein ist."

„Ich habe diese Größe eben in andere Körperteile gesteckt." Er zog überzogen anzüglich eine Augenbraue hoch.

„Und ich dachte, du wärst nicht mehr dreizehn."

Tropfen im Meer  [Stexpert]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt