Kapitel 46

36 2 1
                                    

Lissa

Ein Glücksgefühl durchströmte meinen Körper. Bis in alle Enden meiner Zellen.
Es ist wahrscheinlich nicht allzu leicht für ihn, sich mir letztendlich doch zu öffnen. Aber das er es trotzdem tat, machte mich extrem glücklich und gleichzeitig weckte es diese Hoffnung in mir, es würde nach diesem Gespräch alles wieder wie am Anfang werden.

Als ich ihn so sah, über das Geländer gelehnt und seinen Blick ausdruckslos nach vorne gerichtet, merkte ich, wie sehr ich ihn eigentlich vermisst hatte.
Wie lang war es jetzt her das ich ihm so nahe stand ohne das er mich gleich wegschickte?

Mir kamen plötzlich die Worte in den Kopf, welche ich vor genau zwei Tagen gesagt hatte.

' Von mir wird er nichts mehr hören und reden werde ich auch nicht mehr mit ihm. Da bin ich mir mehr als sicher.'

Es hätte eh klar sein können, dass ich dies nicht einhalten werde geschweige denn auch wirklich kann. Ich konnte mich nicht selber von diesem Jungen abwenden, früher oder später hätte ich wieder einen Versuch gewagt um mit ihm vernünftig zu reden.

Auch jetzt konnte ich ihn nicht alleine lassen. Ich wollte ihn nicht alleine lassen. Egal, was er mir gleich erzählen wird, ich werde nicht gehen. Nicht jetzt, wenn ich endlich die Chance habe für ihn da zu sein. Eine Freundin zu sein.
Er soll wissen, dass ich für ihn, egal um was es auch geht, da sein werde.

In dem Moment tat er mir einfach nur leid. Es beunruhigte mich ihn so zu sehen. Nicht zu wissen, wie er sich gerade fühlt. Was in seinem Inneren vor sich geht.

Seinen Kopf hatte er nun gesenkt. Er sagte immer noch nichts. Das einzige was man von ihm bekam, war der eisige Rauch, welcher bei jedem ausatmen aus seinem Mund kam.
Er tippte mit seinen Fingern nervös auf dem Geländer herum.
Immer wieder. Ab und zu stoppte er, zog seine Augenbrauen zusammen und fing wieder damit an.
Immer derselbe Ablauf.

Ich sagte nichts. Ließ ihm Zeit, die richtigen Worte zu finden. Egal, was es war, es hatte ihn sehr stark geprägt.

Meine Neugier wuchs mit jeder Sekunde, die für mich wie in Zeitlupe verging. Doch drängen wollte ich ihn auch nicht.
Wahrscheinlich würde ich irgendetwas komplett sinnloses sagen und ihn somit daran hindern sich zu überwinden.

Was ist es, was ihm so zu Schaffen macht? Was wurde ihm angetan, dass er ständig in Gedanken war und sich von uns allen distanzierte?
Was musste dieser Junge durchmachen?

Er nahm einmal tief Luft und blies diese wieder aus. Das wiederholte er. Mehrmals, ehe er sich räusperte.

"Es fällt mir wirklich schwer", fing er mit leiser Stimme an und ich merkte wie mein Herz in zwei Teile brach. Seine Stimme klang traurig, verletzt, niedergeschlagen. Es tat einfach weh diese zu hören.

Gleich rückte ich näher an ihn, so nah, dass kein Blatt mehr zwischen uns gepasst hätte. Er ließ sich davon nicht beirren, er sah nicht einmal auf zu mir sondern es blieb immer dieser eine bestimmte Punkt den er so konzentriert fixierte.

"Mein Benehmen war einfach das Letzte, das gebe ich auch zu. Es war einfach komisch irgendwie. All die Jahre schien ich in einer normalen Welt zu leben. In der sich niemand belügt. Jeder ein normales Leben führt. Das alle gleich sind, verstehst du?"

Als Bestätigung legte ich meine warme Hand auf seine kalte. Ich wollte sie nicht wärmen sondern ihm einfach zeigen, dass es ok sei. Das ich da war und nicht woanders.

Er sah kurz auf unsere Hände dann in meine Augen. Dieses schöne blau nach dem ich mich so sehr gesehnt hatte.

Ich lächelte ihn warmherzig an und drückte seine Hand etwas.

"Niemals hätte ich gedacht das ich in so eine Situation mal geraten würde. Doch das bin ich jetzt. Ich stecke so lang darin, doch habe es nicht gewusst"

Er sprach in Rätseln und ließ meine Neugier nur noch unerträglicher werden. Ich verstand einfach nur Bahnhof.

Er war wieder eine Zeit lang still. Seine Augen waren geschlossen.
Er atmete langsam und leise.

"Tyler", flüsterte ich liebevoll und bekam seine ganze Aufmerksamkeit. "Egal, was es ist, vergiss bitte nicht, wir sind für dich da. Du hast Freunde, die dir beiseite stehen, du hast mich und du hast deinen Bruder-"

"Er ist nicht mein Bruder", unterbrach er mich leise und mit brüchiger Stimme.

Kurz blinzelte ich verwirrt. "Wie, er ist nicht dein Bruder? Sag sowas nicht, nur weil du sauer auf ihn bist"

"Er ist nicht mein Bruder", sagte er wieder.

Jetzt war ich komplett weg. Dylan ist nicht sein Bruder? Was?
Kann er mich jetzt bitte aufklären?

"An dem Morgen nach der Party wollte ich dich wieder sehen. Ich wollte über den Kuss reden, über uns. Kurz bevor ich das Haus verließ hatte mich mein Dad noch gebeten, ihm etwas aus seinem Arbeitszimmer zu holen, weil er spät dran war.
Nichtsahnend hatte ich dieses Zimmer betreten und da lag es. Gefaltet und ordentlich lag es unter seiner Mappe, die ich ihm bringen sollte.
Du kannst dir nicht denken wie ich mich in dem Moment gefühlt habe. Verarscht, von vorne bis hinten. Alle wussten davon, sogar Dylan.
Ich hatte es gelesen. Schwarz auf weiß stand die ganze Wahrheit drauf."

Starr sah ich ihn an. Ahnte es schon. Doch, ich ließ ihn weiter reden und mir wirklich sicher zu sein.

"Ich bin adoptiert. Meine Familie, von der ich dachte, sie sei meine, ist nicht meine. Mein Bruder, von dem ich dachte, er sei meiner, ist es doch nicht.
Ich war in dem Moment so sauer, ich konnte mich einfach nicht beherrschen. Ich bin runter zu meinem Vater, mit dem Brief in der Hand und fragte ihn, was das sei. Du hättest sein Gesicht sehen müssen, so geschockt und entschuldigend stand er da. Die Schultern gesenkt und den Blick auf seine Füße gerichtet.
Ich habe ihn angeschrien und er wollte versuchen es mir zu erklären, doch ich ließ ihn nicht ausreden und bin dann zu dir. Total aufgebracht hatte ich dir Dinge erzählt, die nicht ansatzweise der Wahrheit entsprachen.
Ich konnte mich nicht kontrollieren, wie denn auch?
Aber bitte, glaub nicht, dass ich das alles Ernst gemeint habe. Der Kuss war keineswegs ein Fehler gewesen, im Gegenteil, er war atemberaubend und sehr wohl von Bedeutung."

Er sah mich an. So gequält. So viele Emotionen spiegelten sich in seinen Augen wieder. Es tat furchtbar weh.

Ich traute mich gar nicht zu fragen aber trotzdem packte mich meine Neugier, sodass die Frage heraus platzte.

"Was ist mit deinen leiblichen Eltern?"

Er sag bedrückt wieder nach vorne und ich konnte schwören das seine Auge leicht glasig wurden. Aber nein, er weint nicht. Vielleicht habe ich es mir auch nur eingebildet. Ja, wahrscheinlich.

"Meine leibliche Mutter ist bei meiner Geburt gestorben, wurde mir gesagt. Mein Vater und ich lebten allein. Ich war ihr einziges Kind. Der Tod meiner Mutter nahm meinen Vater damals extrem mit, er kam einfach nicht damit klar, sodass er beschloss einfach abzuhauen", er lachte einmal verachtend auf. Und jetzt war ich mir sicher das mich meine Augen vorhin nicht getäuscht hatten, er weinte.

"Er ist einfach abgehauen, einfach so. Und weißt du, wo er mich hingebracht hatte? Da meine Eltern keine Geschwister hatten und ich sonst zu niemanden gehen konnte hat er mich einfach in ein Heim gesteckt. Mein eigener Vater. Ich war gerade mal ein Jahr, er ist einfach abgehauen und hat sein Kind allein gelassen. Wie konnte er das tun? Sag's mir! Wie konnte er das tun, verdammt!"

Ich nahm ihn einfach in den Arm, den Tränen nahe. Ich wusste nicht genau was ich tun oder sagen sollte.
Als er seine starken Arme um mich schloss zog er mich noch fester an sich.
Und als ich plötzlich leise Schluchzer vernahm verstärkte ich den Druck dieser Umarmung noch mehr und er ließ seinen ganzen Gefühlen freien Lauf.

Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: Jan 08, 2017 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

Real Shit?!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt