»Also soll ich dich dort einfach absetzen?«, fragte Harry als er gerade sein Auto aus der üblen Gegend lenkte und in Richtung der genannten Adresse fuhr. Schon vom Namen der Straße her wusste er, dass Ana wohl eher in diese Umgebung passte, als in den Teil der Stadt, in dem er sie getroffen hatte.
Während des Fahrens musste er sich mehr als zwingen, nicht ständig zu ihr zu schauen, wie so dort mit seinem schwarzen Parka saß, dessen Ärmel an ihr aussahen, als reichten sie bis zum Boden. Er fand es unglaublich süß, wenn sie versuchte ihre Haare aus dem Gesicht zu streichen, dann aber daran scheiterte, dass der viel zu lange Ärmel herunterrutschte und ihre Hand bedeckte.
Wäre sie wie Harry gewesen, hätte sie darüber geflucht, doch stattdessen kicherte sie die paar Male, in denen das passierte, darüber, um es dann einfach erneut zu versuchen.
»Ja, das wäre sehr nett«, beantwortete sie seine Frage und schaute ihn kurz von der Seite an, richtete dann aber wieder ihren neugierigen Blick aus dem Fenster. Sie wusste nicht woran es lag, aber sie fühlte sich gerade nicht so, wie sie es vielleicht sollte. Man denkt, dass man sich nach so etwas komplett aufgebraucht fühlt, doch sie tat es in diesem Moment nicht. Das schrieb sie einfach ihrer immensen Erleichterung zu; das musste es sein.
»Das ist sehr persönlich«, begann Harry; er musste genau überlegen, wie er mehr über diesen Typen herausfinden konnte, ohne Ana damit zu verletzen, oder wieder an genau das zu erinnern. Schließlich kannte er sie überhault nicht und hatte keine Ahnung, wie sie auf verschiedene Dinge reagierte.
»Wirst du es deinen Eltern sagen?«, fragte er letztlich wohl eher indiskret, aber eigentlich wollte er sie nicht sofort wieder ängstigen. Nein, er wollte es nur wissen.
»Ich glaube nicht.« Er runzelte die Stirn. »Sonst fühlen sie sich nur darin bestätigt, dass ich mich von Männern fernhalten soll.« Also wollte sie sich nicht von Männern fernhalten? Sie verwirrte ihn mit dieser Aussage irgendwie. Auch wirkte es so, als sähen ihre Eltern in ihr die Schuldige, für das, was passiert war.
Sie schien wie ein offenes Buch, hatte aber doch noch ihre Siegel.
Ana verstand sofort und erklärte weiter: »Vor einiger Zeit war mein Vater an dem Punkt, wo er alle Männer, die mich nur angeschaut haben, fast verflucht hat.« Sie wusste, dass ihr Vater nie ein schlechter Mensch gewesen war, sondern lediglich besorgt um seine Tochter, die auch seine einzige war. Er wollte nicht, dass ein Mann sie wie ein Stück Fleisch benutzte und dann ihre Gefühle verletzte; auch wenn er Ana damit manchmal beinahe erdrückte.
»Wenn er wüsste, was Nicholas getan hat, dann würde er komplett ausrasten«, beendete sie ihre Erzählung, der Harry genauestens zugehört hatte. Er verstand ihren Vater; er würde auch nicht wollen, dass das Herz seiner Tochter gebrochen wird. Dass seiner Tochter etwas wie Ana passieren würde, wollte er auf gar keinen Fall. Würde er jemals eine Tochter haben, der dies passierte, dann würde er den Mann, der dafür verantwortlich wäre, umbringen, das stand fest.
Die restliche Autofahrt schwieg Ana. Sie wollte Harry nicht mit irgendwelchen aufdringlichen Fragen löchern, oder ihm einfach auf die Nerven gehen. Er hatte ihr geholfen und fuhr sie nach Hause, mehr hätte er ihr nicht geben können.
Warum auch immer machte sie sich keine Sorgen darüber, dass sie ihm einfach so ihre Adresse genannt hatte; in ihren Augen schien dieses düstere an ihm nur Fassade zu sein, nicht grundlegender in ihm verankert zu sein. Es klang so naiv, aber sie konnte sich nicht helfen.
»Vielen Dank Harry«, dankte das schöne Mädchen ihm noch einmal und lächelte ihm von der Beifahrerseite seines Autos zu. Es machte ihn glücklich, dass sie schon jetzt wieder dazu fähig war, zu lachen und sich nicht weiter vor dem Mann fürchtete, der ihr in dieser Nacht fast etwas Schlimmes angetan hatte.