"Ist alles in Ordnung?", fragte eine Frau, die einige Minuten später an Ana vorbei ging und sah, wie sie mit gesenktem Kopf an der Wand gegenüber der Tür saß.
Ana hob den Kopf an, um eine Frau etwa Mitte siebzig zu sehen. In der Hand hielt sie eine Schachtel Pralinen.
"Ja, ich- ich warte nur auf jemanden." Sie hängte ein künstliches Lächeln an, wurde dabei von der Frau jedoch sofort durchschaut.
"Dieser jemand ist ziemlich wichtig, hm?" Ihr wurde ein sanftes Schmunzeln zugeworfen, das sie stark an eines ihrer Großmutter erinnerte.
"Es sind sogar zwei", gestand Ana mit einem leisen Lachen und strich sich die Haare aus dem Gesicht, um der Frau ins Gesicht sehen zu können.
"Vielleicht bin ich nur eine alte Frau, die jegliche Barrieren übertritt, aber ich glaube, dass es nicht so schlimm sein kann, wie du denkst." Wieder lächelte sie Ana aufmunternd an.
"Sie übertreten keine Barrieren", versicherte Ana ihr sofort. "Ich bin nur fürchterlich aufgeregt, weil mein Bruder und mein Freund unter vier Augen reden", erklärte sie offen. Warum auch immer hatte sie das Bedürfnis, dieser Frau davon zu erzählen. Ihre Augen strahlten Weisheit aus und vielleicht würde ein Rat von jemandem mit mehr Lebenserwartung Ana helfen können.
"Hast du was ausgefressen?"
"Nein." Ana schüttelte lächelnd den Kopf; ehrlich lächelnd.
"Irgendwie schon, doch", fuhr sie fort und wägte ab, ob sie einfach ehrlich zu der Frau sein sollte. Warum nicht? Sie sähe sie sowieso niemals wieder. "Ich bin schwanger und mein Bruder ist der erste, der davon erfährt."
"Schwanger sein ist wundervoll Mädchen. Wie alt bist du denn wenn ich fragen darf?" Ana glaubte nicht richtig zu sehen, als die Frau sich neben sie an die Wand setzte. Sie war sogar kurz davor aufzuspringen und sie wieder nach oben zu ziehen, aber flink wie sie war, saß sie schon neben Ana auf dem Boden.
"Achtzehn." Sie drehte ihren Kopf zu der Frau, die die Schachtel Pralinen in ihrem Schoß liegen hatte. "Ich heiße übrigens Ana", brachte sie dazu noch automatisch hervor und hielt ihr die Hand entgegen.
"Freut mich; ich bin Ruth." Ruth schüttelte Anas Hand kurz und schmunzelte über diese junge Persönlichkeit neben sich.
"Und du glaubst, dass das ganze schwer wird, weil du erst achtzehn bist?", fragte Ruth nach und legte eine Hand für einen Moment gedankenverloren auf die Schachtel Pralinen.
"Ehrlich gesagt schon. Ich habe schreckliche Angst davor in all dem unterzugehen." Ana winkelte ihre Beine an und legte ihre Arme darauf ab.
"Ich habe zwei Töchter Ana; eine habe ich mit zwanzig bekommen und die andere mit fünfundzwanzig." Ana hörte Ruth beim Sprechen aufmerksam zu.
"Bei beiden dachte ich, dass ich es nicht schaffen werde sie großzuziehen. Und jetzt bin ich auf dem Weg die Tochter meiner älteren zu besuchen und ihr zu ihrem Kind zu gratulieren." Sie lächelte leicht vor sich hin.
"Ich, ich wollte sie nicht aufhalten", stammelte Ana sofort und hatte ein schlechtes Gewissen, diese Frau davon abzuhalten, ihre Urenkel zu besuchen.
"Du hältst mich nicht auf", versicherte Ruth ihr sofort und grinste fast über die Zerstreutheit dieses Mädchens. "Ich war eben schon kurz da und du scheinst mir ein wenig verloren zu wirken, da kann ich nicht einfach an dir vorbeigehen."
"Erzähl schon, was macht dir so große Angst."
"Gerade jetzt fürchte ich, dass mein Bruder meinen Freund da drinnen anfällt", brachte sie hervor. "Im gesamten fürchte ich die Reaktion meiner Eltern. Ich habe noch nicht einmal angefangen etwas zu studieren oder eine Ausbildung zu machen. Ich arbeite nur abends als Kellnerin. Ich habe nichts."