16. Kapitel

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Ich wachte am nächsten Morgen auf und fühlte mich richtig schlecht. Die ganze Nacht über hatte ich Alpträume gehabt, war immer wieder aufgewacht. Müde machte ich mich fertig, froh darüber heute nicht in die Schule zu müssen, und machte mich dann auf den Weg in die Küche. Die ganzen Glücksgefühle von gestern waren verschwunden und ich fühlte mich stattdessen einsam, traurig und naiv. Naiv, weil ich gestern ernsthaft gedacht hatte, dass ich meine Vergangenheit irgendwann, vielleicht sogar schon in naher Zukunft, hinter mir lassen könnte. Dabei sollte ich doch eigentlich wissen, dass das unmöglich war.

Tief in meinen Gedanken versunken betrat ich die Küche, grüßte Fynn leise und setzte mich, ohne mir etwas zu essen zu holen, an den Tisch. Hunger hatte ich nicht, auch wenn es schon fast halb eins war und ich seit gestern Abend nichts mehr gegessen hatte. "Alles in Ordnung? ", fragte Fynn und musterte mich besorgt. "Ja alles gut ich hab bloß schlecht geschlafen." Fynn sah mich zwar nochmal kritisch an, wandte sich dann aber glücklicherweise wieder seinem Frühstück bzw. Mittagessen zu. Ich konnte ihm nicht sagen, wie ich mich wirklich fühlte, denn dass würde Fynn belasten und er würde sich noch mehr Sorgen um mich machen, als er es so eh schon tat und das wollte ich verhindern. Ich war es doch gar nicht wert, dass man sich um mich sorgte. "Ich wollte mich heute mit ein paar Kumpels treffen. Ist es okay, wenn du dann allein zu Hause bist?" "Natürlich. Geh ruhig.", antwortete ich ihm, obwohl ich ihn am liebsten angefleht hätte hier bei mir zu bleiben. Ich wollte nicht so wie damals allein sein. Vorallem, weil ich das Gefühl hatte, dass mich heute alte Gefühle wieder einholen würden. Ich wusste, wenn ich ihn bitten würde zu bleiben, würde er seinen Kumpels absagen, aber das sollte er nicht. Außerdem, was hatte ich denn erwartet? Dass er ab sofort nur noch etwas mit mir und Kyle unternahm? Dass jeder Tag so ähnlich ablaufen würde wie gestern? Das ich meine Vergangenheit irgendwann hinter mir lassen könnte? Ich sollte doch wissen, dass das unmöglich war. Dankbar lächelte er mich an. "Danke Ava. Am besten wartest du nicht auf mich. Es könnte ziemlich spät werden."

Nachdem Fynn dann eine halbe Stunde später das Haus verlassen hatte, ging ich in mein Zimmer, setzte mich aufs Fensterbrett und lies meinen Gedanken freien Lauf, während ich nach draußen sah und einen Punkt in der Ferne fokussierte ohne ihn wirklich zu sehen. Warum war ich so enttäuscht, dass Fynn mich nicht mit zu dem Treffen genommen hatte? Ich konnte ja wohl kaum erwarten, dass er mich jetzt überall mit hin nahm. Ich sollte froh sein, dass er überhaupt so viel mit und für mich tat. Er könnte mich auch einfach komplett ignorieren, schließlich war ich ja nur ein ihm fremdes, innerlich zerbrochenes Mädchen mit Berührungsängsten, dass einfach so in seinem Leben aufgetaucht war. Ein Mädchen, dass weder mit Männern und Jungen reden konnte, noch dazu in der Lage war Freundschaften zu führen. Ein Mädchen mit einer Vergangenheit, die es nicht vergessen oder hinter sich lassen konnte. Ein Mädchen, dass schonmal versucht hatte sich umzubringen. Ja ich hatte schonmal versucht mich selbst zu töten. Es ist noch gar nicht so lang her, nicht mal ein ganzes Jahr. Damals hatte mein Vater mich am Vorabend mal wieder vergewaltigt und danach schlimm verprügelt gehabt und als ich dann in auch noch zwei schlechte Noten zurückbekommen hatte, hattte ich das alles nicht mehr aushalten können. Ich hatte so furchtbare Angst davor gehabt, was passieren würde, wenn mein Vater von meinen Noten erfahren würde, ich hatte nicht mehr missbraucht und zusammengeschlagen werden wollen und ich hatte mich nicht wegzulaufen getraut, weil er immer gesagt hatte, dass er mich überall finden würde, dass ich bereit gewesen war alles zu beenden. Ich war von der höchsten Brücke der Stadt gesprungen, doch aus irgendeinem Grund hatte ich den Aufprall überlebt und war gerettet worden. Ich wusste bis heute nicht, ob ich darüber froh oder traurig sein sollte. Gerade aber fragte ich mich mal wieder, ob es nicht besser wäre, wenn ich nicht einfach gestorben wäre. Was hielt mich denn noch hier. Die immer wieder hochkommenden Erinnerungen an meinen Vater, die mich jedesmal als Wrack zurück ließen? Meine Mutter, die ich kaum zu Gesicht bekam, weil sie dauerhaft arbeiten war? Andrew, vor dem ich noch immer Angst hatte? Kyle, der in letzter Zeit zwar wirklich nett zu mir war, mich aber trotz allem schnell wieder vergessen würde? Einzig und allein beim Gedanken an Fynn stockte ich kurz. Er war mir in dieser kurzen Zeit schon so sehr ans Herz gewachsen. Ich konnte immer zu ihm kommen, wenn ich traurig war tröstete er mich, er versuchte mir zu helfen, doch eigentlich war ich doch nur eine Last für ihn. Vielleicht würde er um mich trauern, doch letztendlich wäre er ohne mich besser dran, wären sie alle ohne mich besser dran. Also warum lebte ich noch? Wahrscheinlich, weil ich noch immer Hoffnung hatte, dass alles besser werden würde, dass auch ich irgendwann ein normales Leben würde führen können und ich so egoistisch war, an dieser Hoffnung festzuhalten, auch wenn ich andere dadurch belastete.

Als ich meine Gedanken nicht mehr aushielt, setzte ich mich an meinen Schreibtisch und begann zu zeichnen. Ich lies meinen Gefühlen freien Lauf, dachte nicht nach, sondern lies all meine Gefühle und Gedanken in dieses Bild fließen. In der Mitte stand ein Mädchen. Um das Mädchen herum wurde es zum Bildrand hin immer dunkler und schwarze, schemenhafte Gestalten versuchten sie in verschiedene Richtungen zu ziehen,während es weinte und schrie. Und für mich, spiegelte sich mein Schmerz in den Augen des Mädchens wieder. Traurig betrachtete ich das Bild und erschrak, als eine Träne auf den Tisch tropfte. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich angefangen hatte zu weinen, doch jetzt konnte ich gar nicht mehr damit aufhören, obwohl ich nicht einmal wusste, warum genau ich weinte. Es gab keinen bestimmten Grund, doch irgendwie fand ich es befreiend, so als würde das Weinen die schlechten Gedanken von heute wegwaschen. Und tatsächlich fühlte ich mich danach etwas besser. Ich lies das Bild einfach liegen, zog mich um und legte mich hin. Ich war ziemlich müde. Die letzte Nacht, meine Gedanken, eigentlich der ganze Tag heute, hatten mich so sehr mitgenommen, dass ich schnell einschlafen konnte.

Ava - My life with fearWo Geschichten leben. Entdecke jetzt