dreiundzwanzig

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"Aua!", entfährt mir ein Krächzen.

Ich zucke zurück, als mir mein Bruder irgendein Tuch mit Desinfektionsmittel auf die Lippe drückt. Beleidigt wende ich mein Gesicht ab.

"Ich kann das auch selber.", murre ich James leise an.

Mir ist schon klar, dass ich mich benehme wie ein trotziger Junge. Aber mein Gesicht tut weh und mir ist übel.

James schnalzt mit der Zunge.

"Ach ja? Wenn du dich immer selbst um deine Wunden gekümmert hättest, die unser lieber Vater dir zugefügt hat, würdest du jetzt nur mehr aus Narben bestehen. Also halt still."

Und weil er recht hat - wieder einmal - tue ich, was er sagt.

Mein Bruder tupft mir wieder übers Gesicht, keine Ahnung, was er da macht. Wenn ich in den letzten Jahren allein war habe ich mir eigentlich meistens nur eine Creme daraufgeschmiert und gehofft, dass es wieder so zuwächst wie vorher.

Aber immer, wenn James da war hat er mich verarztet. Er sollte Doktor werden.

"So, deine Nase sieht eigentlich wieder gut aus, ist sicher nicht gebrochen. Deine Lippe und Wange werden wohl noch ein paar Tage ein bisschen wehtun, und vielleicht bleibt etwas Halsweh.", erklärt mir James.

Zum Glück weiß er nichts von meinem eingeschlagenen Magen, sonst würde er sich noch mehr Sorgen machen.

"Danke, Doc.", erwidere ich und blinzle ihm zu. Ein Lächeln ist leider grade nicht drin.

"Hast du heute schon was gegessen?" Fragend sieht er mich an. Als Antwort schüttele ich leicht den Kopf.
Beim Gedanken an Essen wird mir übel.

"Hab keinen Hunger.", murmle ich und will aufstehen, doch James fängt mich mit hochgezogenen Augenbrauen ab. Scheiße.
Er ist viel zu intelligent, um nichts zu bemerken.

Als er meinen Pullover nach oben zieht und meinen Bauch enthüllt, atme ich zischend aus. Ich will es nicht mal sehen. Hässliche rote Blutergüsse, blaue Flecken.
Das Übliche.

Nach einer weiteren halben Stunde bei meinem Bruderarzt voller Betasten und einem gesunden Frühstück bin ich endlich entlassen.
So schnell mir mein verwundeter Körper es zulässt verschwinde ich in mein Zimmer.

Allerdings nicht, ohne ein dummes Grinsen von James zu kassieren mit den Abschiedsworten:"Und übrigens, die Rötungen an deinem Hals könnten eventuell als Knutschflecken durchgehen."

Schön, dass mein Bruder seinen Humor trotz der ganzen Überfürsorglichkeit nicht verloren hat.
Gerade noch konnte ich ihn davon abhalten, mich in mein Bett raufzutragen wie ein Baby.

In meinem Zimmer angekommen lasse ich mich vorsichtig in die weichen Kissen fallen und schließe die Augen.
Der Hass auf meinen Vater hält mich allerdings vom Einschlafen ab.

Wieder einmal drängt sich mir der Gedanke auf, mir einen Nebenjob zu suchen und einfach auszuziehen.

Allerdings muss ich meine Geschwister beschützen. Ich könnte sie nie zurücklassen, alleinlassen mit meinem Vater.
Mein Vater. Ein grausamer Mann.

Genau deswegen ist er wohl so erfolgreich. Doch egal, wieviel Geld er auch hat, ich möchte nie so werden wie er. Das ist wohl mein Lebensziel.

Was mich ärgert ist, dass ich ihm trotzdem manchmal ähnele. Ich merke es an der Art, wie ich andere auf Abstand halte oder an meinem Gesicht, wenn ich in den Spiegel sehe.

Plötzlich habe ich eine Idee. Ich schlucke ein paar Schmerzmittel - sehr mühsam aufgrund meiner Halsschmerzen- und mache mich auf zum nächsten Friseursalon.

Auf diese Weise kann ich erstens meinen Vater verärgern und zweitens meine Ähnlichkeiten zu ihm ein bisschen verringern. Also zumindest die äußerlichen.
Die dritte und beinahe beste Auswirkung meiner Idee: Übermorgen in der Schule werden die anderen mein zerschlagenes Gesicht wohl kaum beachten, wenn sie zuerst etwas anderes bemerken. 

Nicht, dass ich erzählen würde, mit wem ich mich geprügelt habe. Oder besser gesagt, wer mich verprügelt hat.
Irgendeine Lüge ist mir bis jetzt immer eingefallen.

Allerdings bin ich schon sehr gespannt auf die Reaktion der anderen Idioten in meiner Schule.

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