achtundreißig

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Mich umsehend gehe ich den Gang des Schulgebäudes entlang. Allein die Möglichkeit, er könne hier irgendwo sein, lässt mein Herz schnell schlagen. Das Lustige ist ja, dass ich sonst nie bemerke, dass es überhaupt schlägt.

Doch meine Nervosität ist völlig unbegründet. Cole sehe ich den ganzen Tag nicht, weder im Unterricht noch in den Pausen. Anscheinend hat er sich dazu entschieden, heute zu schwänzen. Obwohl ich eigentlich erleichtert darüber sein sollte, sticht mich die Enttäuschung.

Ich dummer Junge. Wenn jemand kein Recht darauf hat, enttäuscht zu sein, dann bin das ja wohl ich.

Irgendwie versuche ich, den Schultag zu überleben. Und den nächsten, an dem ich Cole wieder im Unterricht sehe. Es ist wirklich seltsam. Wir beobachten uns gegenseitig möglichst unauffällig. Doch sobald einer von uns den Blick des anderen bemerkt, sieht er weg.

Als er in Englisch zwei Reihen hinter mir sitzt, spüre ich wieder mal ein Kribbeln, diesmal im Nacken. Vorsichtig drehe ich mich um, doch da sieht er schon weg. Gerade so sehe ich, dass er ein bisschen rot um die Nase wird, dort, wo seine Sommersprossen am stärksten sind. Der Typ hinter mir sieht mich dümmlich an.

„Was denn?", zischt er mir aggressiv entgegen. Denkt wohl, ich glotze ihn an. So schön bist du jetzt auch nicht, Idiot. Mit einem verächtlichen Schnauben drehe ich mich wieder um, nicht fähig, mich zu konzentrieren.

Den ganzen Tag lang bin ich vollkommen unfähig, auch nur irgendeinen halbwegs sinnvollen Satz herauszubringen.

Cole scheint es ähnlich zu gegen. Zweimal passiert es ihm, dass er vom Lehrer aufgerufen wird und keinen Plan hat, worum es gerade geht. Meistens sieht er mit müden Augen einfach grüblerisch vor sich hin. Solche Momente hatte Cole schon früher, meistens, wenn er irgendwelche Probleme zu Hause hatte, bei denen er sich nicht entscheiden konnte, wie er handeln soll.

Ich habe ihn dann abgelenkt, irgendwelche albernen Witze gemacht oder ihn zum Wettrennen überredet. Meistens haben wir an den Bahngleisen in der Nähe seines Hauses auf einen Zug gewartet und sind neben ihm hergelaufen. Schneller als der Wind, begleitet von Lachen.

Obwohl uns der Zug natürlich abhängen konnte. Aber damals hatten wir immer noch uns.

Jetzt muss er alleine wieder fröhlich werden. Ich weiß nicht, wie ich irgendetwas wiedergutmachen könnte.

Jedes Mal, wenn ich ihm am Gang über den Weg laufe, ist es seltsam. So auch, als ich nach dem Unterricht zum Bus gehen will und Cole von gegenüber bei mir vorbeikommt. Zuerst erkenne ich ihn gar nicht, es sind zu viele andere Schüler. Aber dann sehe ich seine Augen aufblitzen.

Ich kneife den Mund zu und blicke stur geradeaus, auf einen Punkt hinter der Ausgangstür konzentriert. Meine zitternden Hände verwandle ich in Fäuste.

Aus dem Augenwinkel sehe ich Cole an mir vorbeigehen, sein blauer Kapuzenpulli streift meinen Arm ganz leicht.

Und dann höre ich, wie er sich umdreht. „Lee. Warte."

Zögernd bleibe ich stehen. Ich zwinge mich, meinen nervösen Atem etwas ruhiger werden zu lassen. Atme noch einmal ein. Dann drehe ich mich um.

Da steht er, zwischen all den anderen, und ist doch so viel mehr als jeder andere für mich.

Ich will ihn umarmen und mich entschuldigen. Kurz zuckt meine Hand, bevor ich sie wieder verschließe. Aber den Schritt zu ihm, den ich gemacht habe, kann ich nicht rückgängig machen. Ich will etwas sagen, aber ich bringe nichts heraus.

„Hör zu. Das, was ich gesagt habe, meine ich auch. Ich mag dich." Cole sieht mir in die Augen. Dann seufzt er. „Und ich kann nicht einfach nichts mit dir zu tun haben. Dir so seltsam aus dem Weg zu gehen fühlt sich scheiße an, okay?"

Nervös spielt er mit den Bändern seines Pullovers. Zittern seine Hände? Meine tun es.

Ich räuspere mich. Trotzdem klingt meine Stimme leise und müde. „Finde ich auch, ich - " will ich beginnen, doch er unterbricht mich.

„Nein lass mal gut sein. Du musst nichts erklären. Das, was war, war wohl..." Kurz sieht er mich an, als wollte er, dass ich doch etwas sage. Ich mache meinen Mund auf, aber es kommen keine Worte heraus. Schnell sieht Cole weg.

„Es ist besser, wir vergessen das. War sowieso eine scheiß Idee. Wir kennen uns seit wir denken. Können wir...", beginnt Cole, dann fährt er sich mit der linken Hand durch seine hellbraunen Haare. Mir fällt eine kleine Narbe an seinem Handgelenk auf, die er sich zugezogen hat, als wir einmal im Wald Holz schnitzen wollten.

Er murmelt etwas, das klingt wie „Ich kann nicht fassen, dass ich das jetzt sage.", aber vielleicht irre ich mich. Mit festerer Stimme fährt er fort.

„Können wir einfach wieder Freunde sein?"

Freunde. Freunde. How about no? Nicolas sieht mich erwartungsvoll an. Freunde. Wie aus Trance erwache ich und nicke ruckartig.

„Klar. Cool." Nein, nein, nein. Nicht cool. What the fuck. Meine Finger zittern, meine Fäuste werden fester. Ich versuche, zu lächeln.

„Ja. Cool." Nicolas versucht es nicht mal zu erwidern. Mit einem abschließenden Nicken dreht er sich um und geht.

Ich sehe ihm noch hinterher, bevor ich mich losreiße und in die andere Richtung verschwinde.

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