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Es gibt Tage, an denen man schon weiß, dass sie schief laufen werden. An denen man besser erst gar nicht den Fuß vor die Türe setzt. So ein Tag war das nicht.

Obwohl ich im Nachhinein sagen muss, wenn ich gewusst hätte, was auf mich zukommt, was sich denkwürdiges an diesem Tag ereignen wird, hätte ich es wohl nicht gemacht. Einen Fuss vor die Tür gesetzt. Mit Sicherheit sogar. Ich wäre nicht überglücklich und frischverliebt aufgestanden. Hätte nicht eine Melodie summend, Kaffee gekocht und hätte nicht voller Ungeduld auf Nick gewartet, bis er mich abholt. Und schon gar nicht, wäre ich auf mein Rad gestiegen. Mit Lola im Schlepptau.

Da ich, zu diesem Zeitpunkt, noch keinen Dunst hatte, was an diesem Tag auf mich zukommt, bin ich, wie schon erwähnt, mehr als glücklich an diesem Morgen.

Ich stehe also überglücklich und frischverliebt auf. Eine Melodie summend, koche ich Kaffee und voller Ungeduld warte ich auf Nick, bis er mich abholt.

Ich sehe Nicks Lächeln vor mir. Nicht wirklich meine ich. Nur in meiner Vorstellung, in meiner Erinnerung. Ein wohliges Kribbeln durchläuft meinen Körper. Wenn man verliebt ist, ist man doch irgendwie immer 16 Jahre alt, egal wie alt man wirklich ist.

Als es an meiner Wohnungstür klingelt, öffne ich und sehe ihn, wie er an der Wand lehnt und mich lässig angrinst. Er stößt sich von der Wand ab, kommt auf mich zu und zieht mich an sich.

„Hallo Süße!" raunt er mir ins Ohr. Ich muss lachen, weil mich sein Atem kitzelt. In seinen Armen zu liegen, seine Wärme zu spüren, fühlt sich grad unglaublich aufregend und gut an. In diesem Moment gibt es keinen Ort, an dem ich lieber wäre, als in seinen Armen. Ich frag mich echt, wie ich das alles verdienet habe.

Nick und ich sind seit Ewigkeiten befreundet. Eigentlich beste Freunde. Irgendwann ist plötzlich alles anders geworden. Wenn er mir mit seinen blauen Augen in die meinen geschaut hat, bin ich darin versunken, seine Berührung hat meine Haut brennen und mein Herz rasen lassen. Nun kann ich mir ein Leben ohne Nick nicht mehr vorstellen. So schnell kann sich alles verändern. Auch wenn es lange gedauert hat, bis ich es gerafft habe.

„Komm rein, ich geh nur schnell meinen Krempel holen, dann können wir los."

Man könnte meinen, ich sei ein Glückskind. Viele würden das wohl so sehen. Aber ich würde mich dieser Meinung nicht unbedingt anschliessen. Es stimmt, ich habe ne tolle Familie, allen voran mein Bruder Damian, den ich über alles liebe, der eher mein Kumpel, als mein Bruder ist und natürlich meine Eltern. Etwas unkonventionell sind sie zwar, aber cool.

Und dann sind da natürlich noch meine Freunde, die wie eine Familie für mich sind. Die Meisten kenn ich von klein auf und habe ein sehr enges Verhältnis zu ihnen. Vor allem zu Lukas. Das war schon immer so. Und schliesslich und endlich ist da noch Nick.

Trotzdem hat es immer etwas gegeben, das alles überschattet hat. Etwas, das mich zurückgehalten hat. Das mich hat fühlen lassen, dass ich anders bin. Ich konnte nie sagen, was es genau ist, auf jeden Fall hatte es mit meinen Vorahnungen, mit meinen Angstzuständen zu tun. Es war immer da und hat alle meine Tage, meine Stimmungen und meine Entscheidungen beeinflusst. Manchmal stärker, manchmal schwächer. Viele sagen, ich sei melancholisch. Ich glaube nicht, dass es Melancholie ist. Es war vielmehr eine Vorahnung, dass mir von einem Tag auf den andern alles, das mir lieb ist, entrissen wird. Oder entrissen werden könnte. In diesen Momenten hab ich immer eine immense Angst verspürt, die mich praktisch gelähmt hat.

Als ich mit meiner Tasche aus meinem Zimmer komme, seh ich Nick mit meinem Tibet Terrier Lola spielen.

„Kommt sie auch mit?"

„Natürlich... sie kommt immer mit. Oder soll ich was Neues anfangen?" erwidere ich lachend.

Nick grinst schief „Nein, natürlich nicht, aber... na ja, ist egal. Wollen wir?"

Wir nehmen unsere Räder und machen uns auf den Weg. Schon bald lassen wir die Stadt hinter uns und der schöne Teil der Fahrt beginnt. Lola springt ausgelassen umher. Nahe einer Kreuzung scheint sie was Spannendes zu sehen und schießt wie ein Pfeil davon. Ich rufe sie zurück, brülle mir halb die Seele aus'm Leib, aber scheinbar gibt es ihrer Meinung nach verlockenderes, als meine Bemühungen, sie zurück zu holen. Ich hätte dem Vieh echt bessere Manieren beibringen sollen! Ich liebe sie über alles, aber manchmal hat sie wirklich nicht alle.

Ich trete in die Pedale und so tut Nick es hinter mir.

Endlich macht Lola kehrt und rennt in unsere Richtung zurück. Inzwischen bin ich fast an der Kreuzung angelangt. Ich habe Angst, dass Lola, ohne zu schauen, über die Straße zu uns zurück rennt und lasse sie nicht aus den Augen.

Und wie ich gleich auf die harte Tour lerne, habe ich scheinbar alles andere, außer Lola, ausgeblendet.

Vielleicht hat es so sein müssen, das ausgerechnet Lola, der Hund, den ich mir mein Lebtag gewünscht habe, das Ereignis auslöst, das alles verändert. Anders gesagt ist vielleicht genau das, was ich mir immer gewünscht habe, der Auslöser dafür, was nun passiert. Wodurch ich eigentlich selbst zum Auslöser würde. Was mich wieder zum Gedanken bringt, dass alles drauf hingezielt hat, dass es so kommen musste. Aber davon hatte ich zu diesem Zeitpunkt natürlich kein Plan.

Ich hör ein ohrenbetäubendes Krachen, das im schrecklichsten Ton endet, der je meine Ohren malträtiert hat. Hört sich an, wie kreischendes Metall. Metall auf Asphalt oder so. Auf jeden Fall kein wirklich angenehmes Geräusch. Ich fühle einen heftigen Schlag gegen meinen Körper, eine Wucht, die alles andere übertrifft und mich wohl für einige Momente außer Gefecht setzt.

Ich bin mir nicht sicher, was gerade passiert. Als ich die Umgebung wieder mehr oder weniger wahrnehme, fühle ich Gras und Erde unter mir, aber ich kann nichts sehen. Alles ist weiß um mich und mein Körper fühlt sich an, als wäre er mehrmals von einer Dampfwalze überrollt worden. Kann kaum atmen. Ich versuche mich zu bewegen, vergebens. Der Schmerz in meinem Körper wird immer stärker.

Doch nach einer Weile, scheint er auf wundersame Weise abzuflauen, als würde er sich von mir entfernen. Als würde alles sich von mir entfernen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das als gutes Zeichen werten soll. Ich spür kaum noch etwas. Alles scheint in Watte gepackt. Dummerweise kann ich mich noch immer nicht bewegen, egal, wie sehr ich es versuche.

Dann kann ich doch wieder etwas spüren. Etwas berührt meine Hand. Versucht verzweifelt sie festzuhalten. Ich höre von weitem, eine dumpfe Stimme: „Nina!" ein Schluchzen. „Beweg dich nicht, Nina! Alles wird gut. Alles wird gut." Die Stimme ist nur noch ein Flüstern und entfernt sich immer mehr, aber die Hand bleibt an meiner. Nicks Finger, die versuchen, meine zu halten. Ich spüre, wie mir Tränen übers Gesicht laufen. Meine Brust schmerzt, aber diesmal ist es kein körperlicher Schmerz.

Dann entschwindet alles vor mir. Ich liege im Nichts. Alles ist dunkel und trostlos. Die Traurigkeit und Einsamkeit des Moments schwappt auf mich über. Bis ich ihn spüre. Ich weiss, dass er da ist. Lukas. Lukas ist da, auch wenn ich ihn weder sehen noch hören kann. Und es beruhigt mich ein wenig zu wissen, dass er da ist. Denn ich fühle, es ist kein Abschied.

Mails hinter die Nebelgrenze #IceSplinters18 #teaaward2018 #GoldenAward_2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt