acht

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Ich öffne vorsichtig meine Augen. Ich weiss nicht, was ich erwartet habe. Vielleicht hab ich auch gar nichts wirklich erwartet. Aber auf jeden Fall nicht das, was ich vor mir sehe.

Eine grüne, wunderschöne Hügellandschaft. Wälder, soweit das Auge reicht, alles im goldenen Licht der spätsommerlichen Sonne. Man kann sich nicht vorstellen, WIE gut es tut, nach Tagen in der grauen Nebelsuppe, das hier zu sehen. Das Grün der Wälder. Das Sonnenlicht. Alles scheint in einem goldenen Glanz zu liegen. Mir entweicht ein leises Keuchen der Bewunderung. Oder vielleicht auch der Verwunderung. Ich hätte nicht gedacht, dass es hier sowas gibt.

Ich seh mich um. Wir sitzen auf einem alten Wasserturm, ein paar Meter über dem Boden. Der Turm ist alt und die Farbe schon etwas abgeblättert, aber er verfügt über eine eiserne Plattform, auf der man es sich gemütlich machen kann. Die Aussicht ist atemberaubend, aber noch viel schöner ist der Zauber, der über allem zu liegen scheint.

„Wo sind wir hier...?"

„Wir haben dich an einen unserer Lieblingsplätze mitgenommen, Nina. Hier waren wir oft, als wir noch neu waren." River nimmt meine Hand und drückt sie leicht. „Hier haben wir neue Energie gesammelt, um dem ganzen Scheiss, der auf uns eingestürmt ist, die Stirn zu bieten."

River hat Recht. Der Ort strahlt einen unglaublichen Frieden aus. Ruhe.

Rain macht sich an ihrem Rucksack zu schaffen und zieht mit einem breiten Grinsen drei Gläser und eine Flasche Rotwein hervor.

„Wein?" lache ich verwundert. „Seit ich gestorben bin, hab ich nichts mehr gegessen oder getrunken. Können wir denn überhaupt...?"

„Einige Dinge sind vielleicht nicht mehr nötig, aber können tun wir vieles. Manches tun wir auch einfach hin und wieder, weil wir es in unserem früheren Leben gern getan haben." Klärt mich Rain auf und meint dann, für sie erstaunlich ernst: „Vielleicht geben uns diese Dinge etwas Normalität zurück."

River schaut in die Ferne. „Seit wir gestorben sind, mussten wir lernen, die kleinen Dinge zu schätzen. Manchmal ist die ganze Situation so schwer zu ertragen, so widerwärtig, dass man am liebsten aufgeben möchte. Alles hinschmeissen. Wenn wir denn die Möglichkeit dazu hätten. Aber vielleicht ist es auch ganz gut, dass wir die Möglichkeit, alles hinzuschmeissen, nicht haben." River dreht seinen Kopf zu mir und schaut, mit seinen honigfarbenen Augen direkt in die meinen. „Denn es gibt trotzdem noch immer vieles, wofür es sich lohnt weiterzumachen, Nina. Das Leben ist vielleicht nicht mehr dasselbe, das wir hatten und wir können da nicht mehr wirklich mitmischen, aber wir haben doch viele Möglichkeiten hier."

Rain nickt eifrig bei Rivers Worten. „Du musst es dir so einrichten, dass es für dich stimmt. Es ist alleine dir überlassen, was du mit dem machst, das dir geblieben ist. Mit ein wenig Fantasie kannst du fast alles zustande bringen. Zum Beispiel ein Glas Wein, an einem wunderschönen Ort trinken."

Mit diesen Worten entkorkt Rain die Flasche und schenkt Wein in die Gläser ein. Sie reicht uns beiden je ein Glas. Es ist wirklich eigenartig, mit Rain und River hier zu sitzen und Wein zu trinken. Als wäre der Ausflug nichts Besonderes, als würden wir sowas täglich machen. Dabei hätte ich nicht gedacht, dass ich das überhaupt je wieder tun würde.

Der Wein schmeckt gut. Ich sitze einfach hier, lasse mir die Sonne auf's Gesicht scheinen und nippe an meinem Wein. Das erste Mal, seit ich gestorben bin, fühl ich mich nicht völlig verzweifelt. Eigentlich fühl ich mich sogar recht okay. Hauptsächlich wahrscheinlich, weil ich nicht versuche, über meine momentane Situation nachzudenken. Und das hab ich vor allem den beiden Geschwistern zu verdanken.

Eine Welle der Dankbarkeit überkommt mich. Ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen treten wollen und kämpfe dagegen an.

„Alles ok, Nina?" Beide, zu meiner linken und rechten schauen mich besorgt an.

Mails hinter die Nebelgrenze #IceSplinters18 #teaaward2018 #GoldenAward_2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt