zwei

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Ich weiss nicht, wie lange ich schon da sitze. Ist schwer zu sagen, denn erstens gibt's hier Zeit, wie ich sie kannte, scheinbar nicht und zweitens scheinen die hier auch keine Nächte oder Tage zu haben. Ich vermute, dass ich schon eine ganze Weile hier bin. Ich habe etwas geschlafen und fühle mich zwar immer noch mehr als erledigt, aber wenigstens etwas ausgeruhter.

Langsam öffne ich die Augen und seh mich um. Ich weiss nicht, was ich erwartet habe, aber es noch immer alles grau. Grau und neblig. Was soll ich hier, verdammt? Wozu bin ich hier gelandet? Ich fühl mich mies, alles ist grau und öde. Ich bin alleine. Alles was mir vertraut war, ist weg. Verschwunden. Nicht mehr existent, zumindest nicht für mich. Natürlich geht das Leben weiter, nur leider ohne mich. Ich lache bitter.

Ich sollte den verdammten Grund rausfinden, warum ich hier bin. Vielleicht kann ich ja abhaken, was ich hier erledigen soll und dann an einen schöneren Ort verschwinden. Ich habe nämlich nicht vor, bis in alle Ewigkeit alleine in dieser Einöde festzusitzen.

Ich fühl mich wie in einer bekloppten Warteschlaufe. Als hätte ich den Absprung auf die andere Seite der Klippe nicht geschafft, nicht genug Anlauf genommen oder so und hänge jetzt zwischendrin in den Seilen und kann weder vor, noch zurück.

Ich sollte wohl nochmals mit Ben reden. Oder sonst Jemandem, falls hier noch andere Gestalten ohne Körper rumgeistern. Allerdings bin ich mir nicht im Klaren darüber, wie ich auf Jemanden zugehen soll, wenn ich Niemanden sehen kann. Soll ich einfach in Nichts raus rufen? Auf gut Glück? Ich beschliesse abzuwarten.

Meine Gedanken schweifen ab. Zu Nick... wie es ihm wohl geht? Offensichtlich und hoffentlich besser als mir, sonst würd ich ihn allenfalls hier treffen, oder? Obwohl Ben ja gesagt hat, dass nicht jeder der stirbt hier landet.

Und Lukas... In dem Moment, als ich an Lukas denke, fühl ich mich grad noch viel mieser. Meine Brust zieht sich zusammen, als würde eine Tonne darauf lasten. Eine abgrundtiefe Traurigkeit überkommt mich. Verdammt...was ist hier los? Ich versteh ja, dass der Gedanke an Lukas, in Zusammenhang mit meinem Tod, nicht unbedingt erfreulich ist. Ich meine, ja ich vermisse ihn. Er ist, oder vielmehr war, schliesslich mein bester Freund und wir hatten immer eine besondere Verbindung, die wir zwar geschätzt, aber nie richtig verstanden hatten. Aber was ich fühle, wenn ich an ihn denke, ist doch ziemlich heftig.

Ich keuche und versuche nach Ben zu rufen, in der Hoffnung, dass er mich hört. Meine Stimme gibt nicht viel mehr als ein Krächzen her. Ich versuche es noch einmal, etwas lauter.

„Ich bin nicht taub, Nina." Sagt Ben's Stimme leise, gleich neben mir. Ich fahre zusammen. Toll! Er schleicht sich wohl absichtlich an mich ran, um mich zu Tode zu erschrecken. Obwohl, na ja...ich glaube nicht, dass ich zweimal sterben kann. Einmal genügt mir vorerst vollkommen.

„Ben, warum fühl ich mich so mies? Ich fühl mich todtraurig. Sorry... irgendwie hat's dieses Wort mir angetan. Es scheint auf alles zu passen, wie die Faust auf's Auge zurzeit... Jedenfalls, meine Brust tut mir so weh, dass ich kaum atmen kann."

„Ja, dieses Wort beschäftigt uns öfters, vor allem wenn Jemand neu ist hier." Ich kann ein Schmunzeln in seiner Stimme hören. Dann fährt er mit ernster Stimme fort. „Das sind nicht deine Schmerzen. Und nicht deine Traurigkeit."

Geht das schon wieder los. Ich hab grad echt keine Nerven, um Ratespiele zu spielen. Nun verdreh ich wirklich die Augen, ob ich nun welche habe, oder nicht.

„Was soll das schon wieder heissen?"

„Woran hast du gedacht, als dich dieses Gefühl überkam?" antwortet Ben mit einer Gegenfrage.

„An Lukas. Meinen besten Freund." Und schon wieder verstärkt sich mein Unwohlsein. Super. Jetzt kann ich nicht mal mehr an Lukas denken, ohne dass ich mich so mies fühle, dass ich am liebsten tot wär. Mist! Schon wieder dieses Wort. Irgendwie fällt einem erst auf, wie oft man das Wort benutzt, wenn man selber tot ist. Aber auch in diesem Fall fühlt es sich tatsächlich richtig an, das Wort.

„Dann ist er wahrscheinlich der Grund. Oder zumindest einer davon."

„Der Grund wofür?" Im Moment, als ich die Frage ausspreche, weiss ich, wovon Ben spricht. Ich bin hier wegen Lukas. Ich fühl mich grad etwas überfordert von dieser Erkenntnis. Nicht nur, dass ich gestorben bin, jetzt soll ich auch noch für Lukas verantwortlich sein und habe selber keinen Dunst, wie ich mit all dem Krempel umgehen soll.

Was soll ich bloss tun? Wie soll ich es tun? Und was ist mit meinen Schmerzen? So wie ich mich zurzeit fühle, krieg ich kaum nen vernünftigen Gedanken auf die Reihe.

„Und die Schmerzen..." Ich fürchte mich fast es auszusprechen. „ ... sind wohl die von Lukas, ebenso wie die Traurigkeit?"

Auch ohne Ben's Antwort weiss ich, dass ich ins Schwarze getroffen habe und dieser Gedanke lässt mich aufstöhnen. Er macht mir bewusst, wie sehr Lukas unter meinem Tod leidet und das wiederum lässt mich noch verzweifelter, als ich eh schon bin.

Das Bewusstsein, dass andere unter meinem Tod leiden, lässt meinen Tod noch ein Stück realer werden. Bis jetzt hab ich mich vor allem mit mir selber auseinandergesetzt. Ich möchte lieber gar nicht dran denken, wie sich Lukas fühlt. Und Nick. Meine Eltern und Damian. Mir wird übel bei dem Gedanken. Möchte mich lieber verkriechen und die Augen vor Allem verschliessen.

„Das funktioniert nicht." Ben spricht aus, was ich eh weiss, aber nicht wissen will. Er scheint noch immer meine Gedanken lesen zu können. Was ich einerseits beunruhigend finde, andererseits gibt es mich auch das Gefühl, dass ich nicht ganz so alleine bin. Zumindest gibt es Jemanden, der versteht, was in mir vor sich geht. Was die Situation leider nicht zu ändern vermag. Aber immerhin.

Ich seufze. „Was kann ich tun?"

„Gib dich dem Schmerz hin. Dadurch kannst du versuchen, mit ihm in Verbindung zu treten. Wenn er offen ist dafür."

Meine Fresse. Warum kann nicht mal einfach etwas angenehm und einfach sein? Warum ist alles so widerwärtig und schwer? Ich soll mich in den Schmerz stürzen? Was wenn ich das nicht will? Aber das Bedürfnis für Lukas da sein zu wollen, ihm vielleicht auf irgendeine verquere Art helfen zu können, überwiegt schliesslich doch.

Ich gebe mich geschlagen, schliesse die Augen und denke an Lukas. Wie eine Welle überkommen mich die Schmerzen. Nehmen mir die Luft zum Atmen. Mein Körper zittert und mir ist übel. Verdammt! So schlimm? Ich muss mich echt zusammenreissen, um meine Gedanken nicht auf andere Wege zu lenken.

Abgesehen, dass es tatsächlich nicht leicht ist, all die Schmerzen und Traurigkeit auszuhalten, überkommt mich noch meine eigene Traurigkeit (das heisst wohl, dass ich, obwohl ich tot bin, noch fühlen kann?).

Meine Traurigkeit begründet sich vor allem darin, dass andere Menschen wegen mir leiden. Das wollte ich nicht. Das hab ich nie gewollt. Und auch wenn ich mich ja nicht mit Absicht in den Unfall gestürzt habe, so fühl ich mich doch irgendwie schuldig.

Auf einmal bemerk ich etwas. Es sieht aus wie ein Hologramm in einem billigen Science-Fiction Streifen, nur weniger elektronisch und langsamer. Verschwommener. Und dann ist es schon wieder vorbei. Was war denn DAS? Ich seh mich um... und sehe nur den üblichen Nebel. Ich schliesse die Augen wieder und als ich mich eine gute Weile in Lukas' Schmerz suhle, seh ich's wieder. Diesmal deutlicher und länger. Eine Weile scheint alles hin und her zu flackern und dann, als ob man einen Sender richtig eingestellt hätte, ist alles wieder still.

Ich öffne langsam die Augen Ich höre mich selber keuchen. Kann's nicht glauben, dass ich hier bin. Schlage mir die Hände vor den Mund, als ich ihn sehe...

Mails hinter die Nebelgrenze #IceSplinters18 #teaaward2018 #GoldenAward_2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt