neunzehn

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Lukas schreckt aus dem Halbschlaf auf. Starrt entgeistert auf den Phönix. Mit zitternder Hand greift er nach dem Amulett und schaut sich hilflos um. Ich kann förmlich spüren, wie seine Gehirnzellen rattern. Er versucht krampfhaft, eine Erklärung zu finden, wie der Anhänger hierhin gekommen ist. Natürlich kann er keine finden. Irgendwie tut er mir fast leid.

Ich drehe mich zu River um und schaue ihn an. River gibt mir ein leises Lächeln, welches ich nicht ganz deuten kann, nimmt meine Hand und drückt sie leicht.

Ich knie mich vor Lukas nieder und rede ihm zu. Lukas indessen schaut auf den Anhänger in seiner Hand, hebt seinen Kopf, schliesst die Augen und... tut nichts. Sitzt nur da und scheint zu warten. Sein Gesicht verzieht sich schmerzlich, bevor er seinen Mund öffnet und flüstert: „Nina...?"

„Lukas! Ich bin hier! Hörst du mich...? Fühlst du etwas...?" Ich sitze vor ihm auf dem Boden und umfasse seine Hände, hoffe, dass er irgendetwas spürt.

Lukas seufzt tief und lässt den Anhänger wieder auf den Boden fallen. „Wenn du mich doch nur hören könntest, Nina!". Er vergräbt sein Gesicht in seinen Händen.

Ich spüre, wie ich langsam ungeduldig werde. Am liebsten würde ich ihn mal so richtig durchschütteln. Das kann doch nicht sein! Ich versuche hier, mich irgendwie bemerkbar zu machen und was tut er? Er resigniert! Zieht es gar nicht in Betracht, dass ich hier sein könnte, dass ich ihn hören könnte. Verdammt!

Wütend und enttäuscht packe ich, ohne nachzudenken, den Anhänger. Vor Schreck darüber, dass ich den Anhänger tatsächlich in den Händen halte, lass ich ihn gleich wieder fallen, als hätte ich mich an ihm verbrannt.

Mein Schreck ist jedoch nichts gegen Lukas' Schrecken. Er macht einen Satz von beinah einem Meter Höhe. Starrt kreidebleich und zitternd auf den Anhänger, der zwischen uns auf dem Boden liegt.

„Das hast du toll gemacht!" hör ich Rivers Stimme schmunzelnd hinter mir.

„Willst du mich verarschen?" entgegne ich ihm ungehalten.

„Nein, ich meins ernst! Erstens hast du's ohne dass du's wirklich geplant hast, geschafft, den Phönix zu bewegen und zweitens hast du dadurch Lukas Aufmerksamkeit erregt. Auch wenn er zugegebenermassen eher etwas blass aussieht."


[River]

Ich beobachte die beiden. Jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis Lukas sich Ninas Anwesenheit bewusst wird. Ich bin wirklich stolz auf sie. Stolz und zufrieden. Trotzdem mischt sich auch ein klein wenig ungutes Gefühl bei. Mir ist sehr wohl bewusst, dass dieses klitzekleine Gefühl nur egoistische Herkunft haben kann und ich würde wohl vor Niemandem zugeben, dass ich so fühle. Eigentlich würde ich es noch nicht mal vor mir selber zugeben.

Ich schaue Lukas an und langsam mache ich mir Sorgen, dass er umkippen könnte. Er ist kreidebleich und zittert am ganzen Körper. Ich überlege mir, ihm einen Schubs zu geben, damit er auf's Bett fällt, aber ich entscheide mich dafür, vor ihm stehen zu bleiben und ihn nur im Notfall aufzufangen.

Meine Sorge war vergebens. Lukas fasst sich wieder etwas und lässt sich auf's Bett plumpsen, ohne seinen Blick vom Anhänger zu wenden. Er atmet tief durch und beginnt mit zitternder Stimme: „Nina...?" Er macht eine Pause und scheint zu lauschen oder zu versuchen etwas zu spüren. „Nina, wenn du hier bist, mach, dass der Anhänger sich bewegt."

Lukas hält einen Moment inne und beginnt dann leicht, scheinbar über sich selber, zu lachen, während er langsam den Kopf schüttelt und leise sagt: „Wie ein Idiot sitz ich hier und spreche ins Leere, aber na ja, hab ja nix zu verlieren."

Nina dreht sich zu mir um und schaut mich hilfesuchend an.

„Na los! Das ist deine oder besser eure Chance! Versuch den Anhänger aufzuheben!"

Langsam kniet sich Nina nieder und will den Phönix aufheben. Der jedoch scheint nicht zu wollen, sträubt sich dagegen, aufgehoben zu werden und bleibt, wo er ist. Nina dreht sich mit einem verzweifelten Ausdruck in den Augen zu mir um.

„Na los! Versuch's noch einmal. Sammle deine Gedanken und konzentrier dich auf den Phönix!"

Nina atmet tief ein und versucht es wieder. Mit zitternder Hand versucht sie den Anhänger zu greifen. Ich kann ihre Aufregung förmlich spüren. Ich muss mich zurückhalten, dass ich nicht eingreife, aber ich weiss, dass sie das selber hinkriegen muss. Für sich und für Lukas.

Endlich gelingt es ihr, den Anhänger zu verschieben. Mit einem kratzenden Geräusch schiebt sie ihn über den Holzboden.

Lukas scheint schon zum zweiten Mal den Schock seines Lebens zu durchleben. Können wir nur hoffen, dass er kein Herzkasper kriegt. Na ja, dann wär die Kommunikation zwischen den beiden vielleicht wesentlich einfacher. Verdammt! Ich geb mir selber innerlichen einen Klaps auf den Hinterkopf, schliesslich ist das hier kein Scherz!

„Nina!" Lukas Stimme zittert.

„Lukas! Ich bin hier! Ich war nie weg, Lukas! Ich war immer hier. Wie ich es dir versprochen habe!" Nina umklammert Lukas und dann geschieht es! Lukas hebt seine Arme und umfasst Nina. Seine Stimme klingt ungläubig, als er ihr Name immer wieder flüstert und sein Körper vor Aufregung zu zittern beginnt.

Ich steh da, wie bestellt und nicht abgeholt und schaue zu, wie sich die beiden umklammern und gemeinsam weinen, was wiederum mein Herz weinen lässt. Nicht dass ich es Nina und Lukas nicht gönne, aber aus irgendeinem dämlichen Grund scheint sich was Spitzes in mein Herz zu bohren. Ich versuche meinen Blick von ihnen zu wenden, aber ich kann nicht. Es ist, wie wenn man den Blick nicht von einem schlimmen Unfall wenden kann. Es tut weh, trotzdem kann man nicht anders, als hinzuschauen.

Natürlich weiss ich, dass Nina schon lange keine romantischen Gefühle mehr für Lukas hat, trotzdem scheint mein Herz unter einer wilden Angst zu leiden, sie zu verlieren. Vollkommen idiotisch! Verdammt, was ist nur los mit mir...? Statt mich zu freuen, dass Nina endlich zu ihrem Seelenfreund durchgedrungen ist, verheddere ich mit meinen eigenen, egoistischen Gefühlen.

Ich schüttle den Kopf und zwinge mich, meinen Blick abzuwenden. Dieser Augenblick sollte Lukas und Nina allein gehören!

Für einen Moment betrachte ich sie noch einmal. Sie liegen sich noch immer in den Armen und weinen. Umklammern sich. Für einen kleinen Moment wünsche ich mir, an Lukas Stelle zu sein.

Ich schliesse meine Augen und kehre nach Hause zurück, hinter meine Nebelschwaden.

Mails hinter die Nebelgrenze #IceSplinters18 #teaaward2018 #GoldenAward_2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt