sechs

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Ich bin müde.

Nur müde.

Möchte mich nicht bewegen. Möchte gar nichts. Nicht mehr.

Meine Beerdigung liegt vermutlich schon Tage zurück. So genau weiss ich das nicht. Es interessiert mich auch nicht. Es macht keinen Unterschied.

Ich sitze halb liegend auf meine Sessel. Die Augen geschlossen. Und warte. Warte auf nichts. Ich habe nichts, worauf ich warten könnte. Nichts, das mich erwartet.

Manchmal kommt Rain vorbei. Oder River. Und gehen nach einer Weile wieder.

„Es reicht Nina." Ich höre Rivers Stimme. Wiedermal.

Ich reagiere nicht.

„Du musst aufstehen. Mach etwas. Es gibt noch immer Leute, die dich brauchen."

Ich schnaube durch die Nase, aber öffne doch immerhin ein Auge. „Es gibt was?"

„Es gibt Leute, die dich brauchen. Lukas. Und Nick. Nick braucht dich."

„Was ist mit Nick? Was weisst du von Nick, River?" Ich kann nicht anders. Ich muss wissen, was mit ihm ist, auch wenn ich mich lieber vor allem verstecken möchte.

River seufzt. „Er ist noch immer im Krankenhaus. Vorgestern ist er aus dem Koma erwacht." Er schweigt einen Moment, sein ernster Blick liegt auf mir. „Geh ihn besuchen, Nina."

„Und warum teilt mir das Ben nicht selber mit? Ist das nicht sein Job?" Meine Stimme hat, ohne dass ich es beabsichtige, einen trotzigen Klang.

„Es ist egal, wer es dir sagt. Du weisst, dass du ihn besuchen solltest." Rivers Stimme klingt bestimmt.

Ich atme tief durch und schüttle leicht den Kopf. „Ich kann das nicht." Ich fühl mich grad komplett unfähig. Wer sollte mich schon brauchen. Und wozu? Ich bin ja nicht einmal mehr da. Nicht wirklich.

„Natürlich kannst du das. Du bist stärker, als du denkst, Nina. Ich weiss das. Ich kenne dich zwar noch nicht lange, aber ich weiss, dass du alles für sie tun würdest. Auch wenn du dadurch ihre Schmerzen ertragen musst." River schaut mich mit einem warmen Blick an, der von Vertrauen spricht, ein Vertrauen, das ich zurzeit in mich selber nicht habe.

Ich seufze, denn ich weiss jetzt schon, dass River keine Ruhe geben wird, bis ich mich bereit erkläre, Nick zu Besuchen. Aber ehrlich gesagt, ist es mir ein Rätsel, wie ich die Kraft aufbringen soll. Ich denke zurück. Früher war alles einfach. Auch wenn ich es damals nicht immer als einfach empfunden habe. Aber in den letzten Tagen wurde ich eines Besseren belehrt. Heute ist nichts mehr einfach. Nichts ist mehr so leicht und fröhlich wie es war.

Aber Nick ist noch immer da. Im Gegensatz zu mir. Nick, in den ich mich erst kurz vor meinem Tod verliebt habe. Der seit Ewigkeiten mein Freund war. Nick. Mein Nick. Der nicht mehr mein Nick sein kann. Verdammt!

„Soll ich mitkommen?" fragt River leise.

Ich überlege einen Moment. Der Gedanke, nicht alleine dahin zu gehen ist verlockend, aber ich schüttle doch den Kopf. „Das sollte ich wohl alleine tun."

Als ich mich aus meinem Sessel schälen will, hör ich River sagen: „Nina. Eins solltest du vielleicht noch wissen."

„Was?"

„Er hat sein linkes Bein verloren. Es wurde beim Crash vollkommen zerquetscht. Sie haben alles versucht, aber konnten es nicht mehr retten. Sie mussten es ihm abnehmen, oberhalb des Knies."

Geschockt lass ich mich wieder in den Sessel fallen. „Nein! Nein, das kann nicht sein." Ich schlage meine Hände vors Gesicht. „Nicht das auch noch! Wann hört das alles auf? Wann hört diese verdammte Scheisse auf?" Ich fühle, wie ich, vielleicht aus Hilflosigkeit, wieder in meine Wut abdrifte. Die Wut, die ich mein Leben lang nie gefühlt hatte, die aber jetzt schon fast was Befreiendes hat.

Mails hinter die Nebelgrenze #IceSplinters18 #teaaward2018 #GoldenAward_2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt