Da steh ich nun vor meinem Grab. Oder dem, was bald schon mein Grab sein wird. Einem Loch in der Erde. Kalt und einsam. Und genauso einsam wie es aussieht, fühl ich mich. Ich kann kaum hinsehen. Traurigkeit erfasst mich. Kälte. Trauer. Doch am schlimmsten ist die Einsamkeit, die ich bei diesem Anblick verspüre. Dort wird der letzte Rest meines früheren Lebens liegen, der letzte Rest, den meine Liebsten noch von mir wahrnehmen können. In diesem Loch. Einsam und kalt.
Sie werden mein früheres Leben, so wie ich es kannte, hier begraben. Damit abschliessen. Es wird es nie mehr geben. Mich wird es nicht mehr geben. Nicht für sie.
Noch ist Niemand hier. Nur ich, Ben, Rain und River. Ich bin ihnen so dankbar, dass sie mich zu meiner Beerdigung begleiten. Alleine hätte ich es nicht geschafft. Es tut gut zu wissen, dass ich nicht ganz alleine bin. Und doch fühl ich mich alleine. Einsam wie nie zuvor. Unwiderruflich getrennt von allem was mir wichtig ist. Allem was mit bekannt ist.
Es weht eine leichte Brise, der Himmel ist wolkenlos sonnig. Das Wetter scheint mehr als fehl am Platz zu sein an diesem Tag. Ich kann es kaum ertragen. Vielleicht wär es leichter gewesen, wenn es geregnet hätte? Das hätte wenigstens zu meiner Stimmung gepasst. Die grünen Birken flüstern im Wind und scheinen mich trösten, scheinen mich beruhigen zu wollen. Aber es funktioniert nicht. Nicht mal die Birken können mich heute trösten.
Rain hält meine Hand auf der einen Seite, zu meiner andern steht Ben und hinter mir River. Wir alle schweigen. Schweigen und warten.
Und dann seh ich sie kommen. Meine Eltern. Bei ihrem Anblick schnürt sich meine Kehle zusammen. Hinter ihnen Damian, zwischen seiner Freundin Nicole und Lukas. Damian hat seinen Arm um Lukas Hals gelegt. Ich kann die Schwere regelrecht spüren, die über ihnen liegt. Wiedermal überrollt mich die Trauer wie ein Tsunami, bei Lukas Anblick. Ich schnappe nach Luft. Krieg zu wenig davon. Ich spüre wie River seine Hand auf meine Schultern legt und sie leicht drückt. Auch Ben fasst mich am Arm.
So steh ich da, umgeben von meinen neu gefundenen Freunden und versuche im Tod zu überleben. Versuche nicht zugrunde zu gehen. Mein Körper beginnt zu zittern. Ich kann nichts dagegen tun.
Meine Mutter weint und mein Vater nimmt sie in den Arm. Ihre Schultern zucken. Ich spüre, wie auch mir Tränen übers Gesicht laufen. Ich kann sie nicht mehr zurückhalten.
Es kommen noch mehr Leute. Meine Grosseltern, ein paar Schulkameraden, ein paar Freunde. Lena, Raoul und Rita. Nur Nick fehlt. Nick ist nicht da. Was ist mit ihm? Ich weiss, dass es ihm sehr schlecht gehen muss, wenn er nicht hier ist. Er war sonst immer für mich da. Mein ganzes Leben lang war er da.
Hilfesuchend drehe ich mich um und schaue Ben und River an. Bens Blick liegt traurig auf mir und in Rivers Augen seh ich sogar ein paar Tränen, die er schnell weg zu blinzeln versucht, als ich ihn anschaue. Obwohl es mir gut tut zu wissen, dass sie da sind, weiss ich nicht, was ich tun soll. Fühl mich komplett hilflos. Da sind Alle, die ich liebe und weinen.
Sie sind alle da und trotzdem sind sie meilenweit entfernt. Wie kann das sein? Ich möchte ihnen zurufen, dass ich hier bin. Aber bin ich denn wirklich hier? Für sie bin ich es nicht mehr. Nie wieder.
Ich möchte sie in den Arm nehmen, sie fühlen. Möchte dass auch sie mich fühlen können. Aber wir sind in zwei verschiedenen Welten gefangen. Ich hier und sie dort. Eine unsichtbare Mauer dazwischen. Eine Mauer, die ich nicht niederreisen kann. Nicht überwinden kann. Nie mehr wieder! Niemals!
Ein Pfarrer sagt ein paar Worte, aber ich höre sie nicht. Seine Worte dringen nicht zu meinen Ohren durch. Meine Traurigkeit umgibt mich und lässt alle Worte abprallen.
Erst als Damian einen Schritt vortritt und zu sprechen beginnt, kann ich die Worte wieder vernehmen. Seine Stimme klingt etwas unsicher, zögernd. Aber es ist Damians Stimme. Ich hätte sie unter Millionen erkannt.
„Meine kleine Schwester war die Pest. Manchmal. Sie hat mir den letzten Nerv geraubt, hat mich in den Wahnsinn getrieben", er hält einen Moment inne, um sich zu fangen und fährt stockend weiter. „Aber es gibt Niemanden, den ich heute lieber hier hätte als sie. Ich würde alles dafür geben, wenn ich die Dinge ändern könnte. Aber das kann ich nicht. Es schien so, als hätte sie ihr Schicksal gekannt, als hätte sie immer gewusst, dass sie nicht lange mit uns weilen würde. Sie hatte immer die Vorahnung, dass ihre Zeit viel zu kurz sein wird und schlussendlich schien sie recht zu behalten. Leider. Ich hoffe von Herzen, dass sie, an dem Ort, an dem sie jetzt weilt, glücklich ist. Nina... wo auch immer du bist, wir vermissen dich. Und wir lieben dich."
Während er spricht, beginnen ihm Tränen das Gesicht runterzulaufen. Er versucht sie nicht zu stoppen. Als er endet, scheint er in sich zusammen zu sacken und seine Schultern zucken. Nicole nimmt ihn in den Arm.
Ich muss zu ihm. Kann nicht anders. Ich geh rüber zu ihm und schlinge meine Arme um ihn. Auch mir laufen die Tränen übers Gesicht.
Der nächste, der scheinbar ein paar Worte sagen soll, ist Lukas. Lukas versucht sich aufzurichten und setzt ein paarmal an. Aber er kann seine Stimme nicht finden.
Schliesslich hör ich seine Stimme nach mehrmaligem Räuspern leise sagen: „Nina war meine Seelenpartnerin, meine Seelenschwester. Als wir jünger waren, haben wir mal kurze Zeit gedacht, wir seien füreinander bestimmt." Über sein Gesicht fliegt ein Hauch, der einem wehmütigen Lächeln gleicht. „Das war ein Irrtum und doch auch wieder nicht. Unsere Seelen waren füreinander bestimmt. Wir haben uns ohne Worte verstanden. Sie war ein Teil von mir und ich von ihr. Es hat nie Jemanden gegeben, den ich so geliebt habe wie sie und wird es auch nie mehr geben. Nicht in dieser Art. Mein Herz ist mit ihr gegangen. Es ist entzwei gebrochen." Er verstummt für einen Moment um dann noch leiser weiterzufahren: „Nina, ich hoffe, du spürst, dass ich bei dir bin. Immer."
„Ja, das spür ich Lukas." Flüstere ich zurück. „Und ich bete darum, dass du eines Tages auch spüren kannst, dass mein Herz ebenso bei dir geblieben ist." Bring ich zwischen Schluchzern, die ich nicht kontrollieren kann, raus. Der Weinkrampf schüttelt mich und meine Nase trieft, aber ich kümmere mich nicht darum. Es ist mir egal. Es tut so weh. So verdammt weh!
Ich sinke auf die Knie. Habe keine Kraft mehr, mich aufrecht zu halten. Und ebenso tut es Lukas kurz darauf, an meiner Seite. Auch er sinkt in die Knie und hält sich die Hände vor's Gesicht. Weint.
Ich bin so abgrundtief traurig! Nur traurig. Trostlos. Es fühlt sich an, als würde ich mich nie mehr fortbewegen können von hier. Die Trauer lähmt mich. Nimmt mir den Atem. Ich möchte, dass alles aufhört. Kann nicht mehr.
Wenn ich nochmals sterben könnte, würd ich es in dem Moment tun. Damit alles vorbei ist. Ich nichts mehr zu spüren brauche. Aber ich weiss nur zu gut, dass das nicht funktioniert.
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Mails hinter die Nebelgrenze #IceSplinters18 #teaaward2018 #GoldenAward_2018
General FictionEine Sekunde. Eine klitzekleine Sekunde, die alles beendet. Die alles auf den Kopf stellt. Nina war eigentlich recht zufrieden mit ihrem Leben. Bis zu diesem Moment, der alles verändert, dem Moment, der sie aus dem Leben reisst. Wie soll sie dami...