Ich finde mich, auf dem Boden kauernd, in Lukas Bauwagen wieder, wo er zurzeit wohnt.
Lukas liegt gekrümmt auf dem Bett. Die Augen fest geschlossen. Er sieht erbärmlich aus. Ich gehe zu ihm und fahre ihm über die Haare. Er spürt mich nicht. Aber nach einer Weile scheint er sich etwas zu entspannen. Sieht nicht mehr ganz so verkrampft aus. Ich fühl mich absolut hilflos in dieser Situation und ich muss mir Mühe geben, damit die Hilflosigkeit nicht in Wut umschlägt.
Ich spüre, wie Lukas an meinen Tod denkt. An den Tag im Krankenhaus. Er lässt sich die schreckliche Szene nochmals durch den Kopf gehen. Er beginnt zu zittern.
Wenn ich früher schon eine besondere Verbindung zu ihm hatte, so kann ich jetzt seine Gefühle und Gedanken fast 1 zu 1 fühlen, als wäre ich in seinem Kopf eingenistet. Oder er in meinem. So genau kann ich das grad nicht auseinanderhalten. Es ist ziemlich verwirrend und so intensiv, dass es beinah unerträglich ist.
„Hör auf damit Lukas. Du tust dir nur selber weh." Und mir auch. Er hört mich nicht.
Er sieht sich selber zu, wie er zusammenbricht, als der Arzt Damian die Nachricht überbringt. Die Nachricht, dass ich gestorben bin. Er stürzt zu Boden und als er etwas später versucht sich aufzurichten, erbricht er alles, was sein Magen hergibt. Ich möchte ihn beschützen. Möchte ihn von den Erinnerungen wegziehen, ihn abschirmen, aber das kann ich nicht. Es tut mir weh, so wie es ihm weh tut.
Ich versuche ihn in den Arm zu nehmen. Ihn zu trösten. Ihn zu halten. Aber er spürt es nicht. Ich kann nichts tun, als bei ihm sitzen zu bleiben und den Schmerz mit ihm teilen.
Wofür war das alles gut? Wieder verspüre ich, wie ich wütend werde. Wozu das alles? Plötzlich erscheint mir mein eigenes Verschwinden von dieser Kugel nicht mehr als wirklich wichtig. Ich wollte nie, dass Jemand wegen mir leidet.
Mir ist bewusst, dass meine Wut gerade zu gar nichts gut ist. Ich versuche sie zu verdrängen. Ich bin hier bei Lukas und sollte etwas tun. Nur was??
Ich lege mich neben ihn auf das Bett und lege meine Arme um ihn. Ich weiss nicht, ob ihn das beruhigt. Habe keinen Dunst, ob er etwas spürt. Aber ich hoffe es.
Ich liege noch immer neben Lukas, meine Arme um ihn geschlungen. Ich weiss, es klingt ziemlich bescheuert, wenn ich sage, dass meine Arme um ihn gelegt sind, wenn ich doch über keinen Körper mehr verfüge. Aber wie Ben gesagt hat, ich kann mir alles vorstellen und dadurch alles tun. Welche Wirkung es jedoch auf meine Umgebung hat, sei dahingestellt.
Ich habe nichts als meine Vorstellung. Es ist alles, das mir geblieben ist, für mich und für die Welt, die ich vor kurzem verlassen habe. Echt erbärmlich!
Lukas ist eingeschlafen und ich beschliesse, mal wieder zu meinem Sessel zurückzukehren. Falls ich das hinkriege. Niemand hat mich wirklich instruiert, wie das alles vonstattengeht, aber ich werde einfach versuchen, auf demselben Weg zurückzukehren, wie ich gekommen bin.
Ich streiche noch einmal über Lukas Haarschopf und drücke ihm einen Kuss auf, schliesse die Augen und konzentriere mich auf meinen roten Sessel in der Nebellandschaft. Ich benötige eine Weile, um genügend Konzentration aufzubringen, aber schliesslich gelingts mir.
Ich lasse mich in meinen Sessel fallen und fühle mich erledigt, aber auch etwas erleichtert. Es war nicht einfach, bei Lukas zu sein. Sein Schmerz und seine Trauer haben mich richtiggehend erdrückt.
Ich nehme mir vor, auch mal bei Nick vorbeizuschauen. Hahaha... klingt wie ein makabrer Sonntagsspaziergang.
Aber für den Moment muss ich mal schauen, dass ich selber nicht unter die Räder komme. Wieder mal fällt mir die Ironie meiner Gedanken auf. Ich lache bitter auf. Genau! Unter die Räder gekommen, bin ich eh schon. Ich seufze, lasse meinen Kopf erschöpft nach hinten fallen und schliesse die Augen. Scheinbar können auch Tote nur ein gewisses Quantum an Trauer und Schmerz ertragen.
Ich versuche das Hämmern in meinem Schädel zu ignorieren. Was ist überhaupt passiert? Ich meine den Unfall... welches hirnverbrannte Arschloch hat uns über den Haufen gefahren? Konnte er nicht besser aufpassen? Er hätte uns doch leicht sehen können! Obwohl ich keinen Dunst habe, ob er uns tatsächlich hätte sehen können, tut es auf eine verquere Art gut, auf Jemanden wütend zu sein.
Wenn dieser Autofahrer nicht gewesen wäre, wäre jetzt alles wunderbar. Perfekt. Alle wären glücklich. Ich und Nick. Frisch verliebt. Und Damian, meine Eltern und Lukas müssten ebenfalls nicht leiden!
Warum nur, musste ausgerechnet mir das alles widerfahren? Hätte dieser bescheuerte Autofahrer nicht Jemand anderen umlegen können? Alles, einfach alles, was ich hatte, was mir wichtig war, wurde mir in nur einem Moment entrissen.
Ich bemerke, wie mich diese Gedanken immer mehr zermürben. Versuche tief durchzuatmen.
Auf einmal hör ich etwas. Ein paar Klänge, eine Melodie. Was zum Teufel... das ist doch... Foo Fighters! Ich höre Foo Fighters durch die Nebelschwaden! Ich glaube, jetzt kann man mich endgültig in die Klapse einliefern! Falls es hier sowas ähnliches gibt.
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Mails hinter die Nebelgrenze #IceSplinters18 #teaaward2018 #GoldenAward_2018
General FictionEine Sekunde. Eine klitzekleine Sekunde, die alles beendet. Die alles auf den Kopf stellt. Nina war eigentlich recht zufrieden mit ihrem Leben. Bis zu diesem Moment, der alles verändert, dem Moment, der sie aus dem Leben reisst. Wie soll sie dami...