Vor mir liegt der kleine, wunderschöne Waldweiher. Alles wirkt ruhig und friedlich. Ruhiger und friedlicher als mein Herz sich anfühlt. Auch wenn Marlon mehrmals betont hat, dass ich mir bezüglich River und Joleen keine Sorgen zu machen brauche, lastet es doch noch immer auf mir. Ich ertappe mich immer wieder, wie mir ein tiefer Seufzer entfährt und so sehr ich's versuche, ich kann nichts dagegen tun.
Den Rest des Abends konnte ich zwar ein wenig besser geniessen, trotzdem hat River kaum ein Wort an mich gewandt. Es ist einfach so ungewohnt von River links liegengelassen zu werden. So kenne ich ihn nicht.
Zum Abschied hat er mich kurz gedrückt und mir ins Ohr geflüstert, dass er heute vorbei käme, um mit mir zu reden. Mit mir reden! Wie das schon klingt. Wenn wir zusammen wären, hätte ich jetzt wohl Angst, dass er Schluss machen will. Aber wir sind ja nicht zusammen, also kann er sich auch nicht Schluss machen. Aber was will er dann mit mir bereden?
Ich hatte keine Bock und vor allem keinen Nerv, in meinem Haus zu sitzen und auf River zu warten. Deshalb bin ich schon ziemlich früh hier raus gekommen, in der Hoffnung, dass der Wald mich beruhigt. Wie er es immer getan hatte. Heute leider nur mit Teil-Erfolg.
Was will ich denn überhaupt von River? Warum macht mir das Thema Joleen so zu schaffen? Verrenne ich mich hier vollends in irgendwas?
Obwohl die Umgebung durch das einfallende Sonnenlicht zwischen den Bäumen zauberhaft aussieht, kann ich mich nicht ablenken. Zu viele Gedanken gehen mir durch den Kopf. Nicht nur Joleen und River. Auch die Dinge, die Marlon mir über sein Leben verraten hat spuken mir durch den Kopf, ebenso wie Nick und Felicitas. Aber vielleicht ist ein Ort wie dieser ja wie geschaffen dafür, seinen Gedanken nachzuhängen.
Marlon war ein sehr angenehmer Gesprächspartner, der einem wunderbar zuhören kann, aber auch einiges über sich selber preisgibt. Ich habe das Gefühl, dass es für ihn wichtig wäre, mit seinen Hinterbliebenen Frieden zu schliessen. Aber nur er allein weiss, wann und wie er das tun kann. Nur er allein weiss, wann er über diesen, scheinbar immensen, Schatten springen kann.
Von Felicitas hab ich seit meinem letzten Mail noch nichts gehört. Irgendwie beunruhigt mich das. Ich nehme mir vor, ihr nochmals zu schreiben, wenn ich zuhause bin.
Die Sonne steht schon hoch am Himmel, als ich endlich wieder zu meinem Häuschen zurückkehre.
Als mein Heim in Sichtweite ist, seh ich Jemanden auf der Bank vor dem Haus sitzen. Wie kann es anders sein... River!
Ich hole tief Luft und versuche meine Puls zu beruhigen. Seit wann macht mich sein Anblick so nervös?
„Hey River!" Meine Stimme klingt zaghaft.
„Nina! Ich hab auf dich gewartet... ich... ich wollte mit dir reden." River wirkt ganz im Gegensatz zu sonst ziemlich unsicher.
„Reden, worüber denn?" Das mulmige Gefühl in mir wird immer stärker. Normalerweise begrüsst mich River mit einer Umarmung, doch heute nicht. Was hat dies zu bedeuten?
„Ich wollte mich für Gestern entschuldigen! Es war idiotisch und egoistisch von mir, Joleen hierher einzuladen."
Ich schaue River prüfend an. „Warum denkst du, dass es idiotisch und egoistisch gewesen ist?" Ich bin mir nicht sicher, ob ich dieses Gespräch überhaupt führen will.
„Ich hätte wissen müssen, dass Joleen, wenn ich sie mal wiedersehe, meine ganze Aufmerksamkeit in Beschlag nimmt. Wir sehen uns nicht sehr oft, musst du wissen. Und das war dir gegenüber nicht fair." River schaut mir mit einem bittenden Blick in die Augen.
„Wie wär's, wenn du mir mal erzählst, was es mit Joleen und dir auf sich hat?"
River seufzt. „Okay..."
Scheinbar muss er überlegen, wie er mir die Geschichte verklickern will, was nicht gerade dazu beiträgt, dass ich mich entspanne. Nach einer Ewigkeit beginnt er: „Ich kenne Joleen schon mein Leben lang. Seit Ewigkeiten sind wir befreundet oder eigentlich waren unsere Eltern schon befreundet beziehungsweise, sind es noch immer. Aber die Beziehung zwischen uns zwei war immer nur freundschaftlich.
Eines Abends waren Joleen und ich zusammen im Kino und sind danach zu Fuss nach Hause gegangen. Unser Weg führte am Haus einer befreundeten Familie vorbei, wo Rain an diesem Abend auf die Kinder aufpassen sollte." River sucht nach Worten und es fällt ihm sichtlich schwer, die Ereignisse dieses Abends zu erzählen.
„Als wir zwei Strassen von besagtem Haus entfernt waren, sah ich aus der Richtung, in der das Haus stand, Rauch aufsteigen. Ein ungutes Gefühl ergriff mich. Ich begann schneller zu gehen und zum Schluss sogar zu rennen. Joleen folgte mir auf den Fersen.
Als das Haus in Sichtweite kam, sahen wir es. Es stand lichterloh in Flammen! Weit und breit war keine Feuerwehr zu sehen. Ich rannte, so schnell es meine Beine zuliessen und schrie Joleen zu, sie solle draussen warten.
Joleen hat natürlich mal wieder nicht auf mich gehört! Sie ist sehr stur, musst du wissen. Sie folgte mir und schrie mir zu 'such du Rain, ich schaue nach den Kindern'. Also versuchte ich Rain zu finden. Überall war beissender Rauch und lodernde Flammen. Obwohl ich das Haus zwar etwas kannte, konnte ich mich kaum orientieren. Ich kroch am Boden entlang, da dort der Rauch noch nicht so dicht war.
Nach einer endlosen Zeit hab ich Rain endlich gefunden. Sie war nicht mehr bei Bewusstsein." River macht eine Pause und schliesst die Augen, ehe er mit leiser Stimme fortfährt: „Ich wollte sie nach draussen schleppen, aber ein brennender Balken krachte runter, nur knapp an uns vorbei und versperrte uns den Ausweg.
Der Rauch wurde immer dichter und nahm mir die Luft zu atmen. An mehr erinnere ich mich nicht mehr."
Ich schlucke hart. „So seid ihr, du und Rain, also gestorben?"
River zeigt mir ein schiefes Grinsen. „Ja, so sieht's aus. Unsere Eltern haben das Wasser über alles geliebt. Daher unsere Namen RAIN und RIVER. Und ausgerechnet wir sterben im Feuer. Ironie des Schicksals!"
Rivers Grinsen wirkt etwas kläglich.
„Was ist mit Joleen passiert?"
„Inzwischen ist die Feuerwehr eingetroffen und Joleen hat es geschafft, die beiden Kinder der Familie durch das Fenster an die Feuerwehrleute zu übergeben. Auch sie hätte sich noch retten können, aber sie machte sich auf die Suche nach Rain und mir, obwohl die Feuerwehrleute dies nicht zulassen wollten, da es zu gefährlich sei. Aber sie kannten ihren sturen Kopf nicht. Und genau dieser sture Kopf und ihr grosses Herz wurden ihr zum Verhängnis."
Ich bin wie erschlagen von Rivers Geschichte und spüre Tränen in meinen Augen, weiss nicht was ich sagen soll. Kein Wunder, dass Joleen immer ein besonderer Mensch in Rivers und Rains Leben sein wird. Ich schäme mich für meine Gefühle und meine Gedanken, welche ich gehegt hatte.
„Es tut mir so leid!" Ich ziehe ihn in eine Umarmung und halte ihn fest.
„Na ja... wir alle haben hier unsere Schicksale und wir alle haben gelernt, damit zu leben... oder eben NICHT zu leben, aber was mir wirklich leid tut ist, dass Joleen ihr Leben verloren hat, nur weil sie uns helfen wollte." Nach einer kurzen Pause fährt River fort: „Vielleicht hätte ich dir schon früher von Joleen erzählen sollen. Vielleicht hätte ich sie gar nie zu dir einladen sollen. Ich wollte nicht, dass du dich schlecht fühlst."
Ich schau River an. Seine dunkelbraunen Haare sind zerwuselt und seine Honig-Augen bilden Halbmonde, während er mir sein wärmstes Lächeln schenkt. Mein Magen schlägt gerade einen Purzelbaum.
River nimmt sachte meine Hand und drückt sie leicht.
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Mails hinter die Nebelgrenze #IceSplinters18 #teaaward2018 #GoldenAward_2018
General FictionEine Sekunde. Eine klitzekleine Sekunde, die alles beendet. Die alles auf den Kopf stellt. Nina war eigentlich recht zufrieden mit ihrem Leben. Bis zu diesem Moment, der alles verändert, dem Moment, der sie aus dem Leben reisst. Wie soll sie dami...