F e l i c i t a s

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Von: felicitas.707@bluewin.com

An: nina@wo-auch-immer-du-bist.com

Betreff: Es tut mir so leid


Hi Nina

Ich weiss nicht wirklich, wo ich anfangen soll. Und mir ist auch bewusst, dass diese Worte dich nicht mehr erreichen können, es sei denn, du... aber das sind Hirngespinste. Trotzdem muss ich die Worte an dich richten.

Es tut mir so leid. Es tut mir so verdammt leid, was an diesem Tag vor 2 Wochen passiert ist. Was würde ich dafür geben, wenn ich an diesem Tag niemals in mein Auto gestiegen wäre.

Aber so sehr ich es möchte, ich kann nicht ändern, was geschehen ist.

Ich bitte dich nicht um Verzeihung, denn das wäre nicht angebracht. Nicht in dieser Situation. Ich möchte nur, dass du weisst, dass es mir von Herzen leid tut und dass ich es ungeschehen machen würde, wenn es irgendwie in meiner Macht läge.

Wo auch immer du bist, falls du noch irgendwie „bist" und diese Worte dich tatsächlich erreichen, hoffe ich, dass es dir den Umständen entsprechend gut geht.

Felicitas



Meine Hände zittern immer mehr, als ich diese Zeilen lese. Bis mir das Papier schliesslich aus der Hand fällt. Eigentlich ist „aus der Hand fallen" nicht ganz das richtige Wort dafür. Ich werfe es quasi von mir, so als hätte ich mich daran verbrannt. Als hätte mich ihr Name verbrannt.

Ich schlage die Hände vor meinen Mund und kann nur schwer atmen. Sitze da und starre mit weit aufgerissenen Augen vor mich hin.

Was will sie von mir? Warum schreibt sie mir? Ich wollte niemals etwas von ihr hören! Es war leichter, als die Person noch keinen Namen hatte und keine Worte an mich gerichtet hatte. Es war leichter sie zu hassen. Ihr die Schuld an allem zu geben. Wieso muss sie es noch schwerer machen, als es eh schon ist?

Wie kann sie es wagen, mich in diese Situation zu bringen! Wie kann sie es wagen, zu sagen, dass es ihr leid tut? Denkt sie vielleicht, dadurch wird es besser? Nichts, absolut gar nichts, kann es besser machen.

Schon ihr Name allein fühlt sich an, wie ein Schlag in meine Magengrube. Felicitas! Sie heisst Felicitas. Sie, die alles zerstört hat, heisst Felicitas! Die Glückliche. Wie die Faust auf's Auge!

Ben kniet vor mir nieder und hebt den Brief auf. Steht etwas hilflos da und überreicht ihn River, nachdem ich nicht regiere, als er mir den Brief hinstreckt.

„Ich glaube, ich gebe dir etwas Zeit, nachzudenken und dir alles durch den Kopf gehen zu lassen. Wenn etwas ist oder du mit Jemandem sprechen willst, ruf mich einfach. " Mit diesen Worten lässt sich Ben von Nebelschwaden verschlucken. Ich schliesse die Augen und schüttle den Kopf.

Nach einer Weile hör ich Rivers Stimme neben mir: „Hör mal. Du brauchst nicht sofort zu reagieren. Und wenn du nicht magst, brauchst du überhaupt nicht zu reagieren. Aber Ben hat Recht, du solltest die Sache einfach mal etwas setzen und sie dir durch den Kopf gehen lassen." Er schweigt einen Moment. „Soll ich dich alleine lassen? Oder soll ich vielleicht Rain rüberschicken? Sie ist zwar jung, aber manchmal hat sie mehr Durchblick, als man denkt."

Ich weiss grad selber nicht, was ich will. Ob ich lieber alleine sein will oder ob mir Gesellschaft gut tun würde. Aber ich spüre dass ich, wenn ich jetzt alleine wäre, gegen meine Frustration und Wut den Kürzeren ziehen würde. Es hat zwar etwas verlockendes, seiner Wut freien Lauf zu lassen, aber im Endeffekt würde ich mich nur noch elender fühlen, als ich's eh schon tue. Zudem haben mich Felicitas' Worte auch reichlich verwirrt zurückgelassen und da tut es vielleicht gut, mit Jemandem sprechen zu können.

„Na ja, ich weiss nicht, ob ich ne gute Gesellschafterin bin zurzeit, aber wenn Rain und du mit mir zusammen Trübsal blasen wollt, dürft ihr das gerne tun." antworte ich und bringe ein schiefes Grinsen zustande.

„Na gut. Ich geh sie kurz holen und dann machen wir uns einen gemütlichen Nachmittag. Suhlen uns gemeinsam mit dir im Trübsal, ok?" Er schenkt mir ein herzliches Lächeln und drückt mir, wie es scheinbar zu seiner Gewohnheit geworden ist, einen Kuss auf meinen Scheitel und macht sich davon, auf der Suche nach Rain.

Ich bleibe auf meinem Sessel zurück und fühl mich... Verdammt! Es ist einfach nur schmerzhaft. Es ist schmerzhaft an Alles erinnert zu werden, es ist schmerzhaft an diesen Tag, an diese paar Sekunden zu denken, die alles verändert haben. Die paar Sekunden, die für mich auf einen Schlag alles beendet haben und für meine Familie und Freunde alles über den Haufen geworfen haben. Ich fühl mich grad ziemlich überfordert mit diesem Mail. Habe keinen Dunst, wie ich darauf reagieren oder wie ich mich damit fühlen soll.

Kurze Zeit später kehrt River mit Rain im Schlepptau zurück. Rain kommt mit einem Rucksack angetanzt und sieht wie immer unternehmungslustig aus.

„Ich wusste doch, dass sie sich melden würde!" hör ich Rains fröhliche Stimme. Bei mir angekommen, zieht sie mich als Erstes in eine Umarmung. „Ich weiss, dass du grad nicht wirklich aus den Socken hüpfst vor Begeisterung über das Mail, aber du wirst sehen, es ist gut so." flüstert sie mir ins Ohr.

Nach einer langen Weile löst Rain sich wieder von mir und meint: „Kommt schon, wir machen einen kleinen Ausflug."

Ich beäuge sie misstrauisch und hake nach: „Was meinst du mit einem Ausflug?" Bis jetzt haben mich die Ausflüge, die ich gemacht habe, seit ich hier bin, nie wirklich begeistert. Da war der Besuch bei Lukas, der Besuch bei Nick und meine Beerdigung. Auf all dies konnte ich im Moment getrost verzichten. Dafür habe ich weissgott keine Energie und kein Bock zurzeit.

„Lass dich überraschen!" Rains Mund verzieht sich von einem Ohr zum andern. Ihre Fröhlichkeit ist einfach sagenhaft. Es gibt Leute, die würdest du am liebsten an die Wand klatschen, wenn sie so happy sind, während du deine Krise zu schieben versuchst, aber bei Rain ist es anders. Sie hat diese unglaubliche Leichtigkeit. Wie ein warmer Sommerregen eben. Ihr unbekümmertes Gemüt tut einfach gut.

Rain und River nehmen mich in die Mitte, Rain hakt sich bei mir unter.

„Was hast du denn da mit Rain?" frage ich, mit einem Blick auf ihr Rucksack.

„Das wirst du schon früh genug sehen!" Lacht sie. „Nur nicht so neugierig."

Eigentlich bin ich gar nicht neugierig. Ich habe mich bloss gewundert, da ich in dieser eigenartigen Zwischenwelt noch nie Jemanden mit Rucksack gesehen habe. Aber gut, eigentlich weiss ich eh noch nicht viel über das Leben hier. Sofern man das hier Leben nennen kann. Wir leben ja alle nicht mehr im eigentlichen Sinne. Also sollte ich vielleicht besser sagen, über Gewohnheiten der Bewohner dieser schrägen Sammelstation.

Wir bahnen uns einen Weg durch die Nebelschwaden und Rain will wissen, was Felicitas im Mail geschrieben hat.

„Das Mail ist bei deinem Bruder, aber wenn du möchtest, kannst du es gerne lesen nachher." Ich selber habe nicht unbedingt Bock, ihr den Inhalt zu verklickern. Überhaupt hab ich nicht keine Lust, mich mit dem Mail zu befassen. Trotzdem bring ich es nicht zu meinem Kopf raus. Immerzu geistern mir Felicitas' Worte in meinem Gedächtnis rum. Wie ein Echo, das man nicht ausschalten kann.

Wir gehen durch die graue Nebellandschaft und endlich beschliesst Rain, dass wir angekommen sind. Wie immer kann ich nichts Besonderes erkennen. Es ist mir noch immer in Rätsel, wie sie wissen wollen, hinter welcher Nebelschwade wir am richtigen Ort sind.

Rain und River bedeuten mir, mich auf den Boden zu setzen, also setze ich mich und sie tun es mir gleich. Ich weiss schon, was jetzt kommt und schliesse die Augen.

Als ich sie nach einer Weile wieder öffne, entweicht mir ein leises Keuchen, als ich sehe, wo wir uns befinden.


Mails hinter die Nebelgrenze #IceSplinters18 #teaaward2018 #GoldenAward_2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt