Es ist ein angenehmer Spätsommernachmittag, neben mir auf der Veranda sitzt Marlon und wir beide geniessen die Ruhe.
Die Hütte auf der Waldlichtung ist seit langer Zeit mein neues Heim geworden. Ich kann nicht mal sagen, wie lange ich schon hier bin, da wir unsere Zeit nicht mehr in Wochen, Monaten oder Jahren zu zählen pflegen.
Es ist schon länger her, dass Rain hat weiterziehen müssen. Weiss der Geier wohin, aber weg von hier. Ich hoffe, es geht ihr gut, da wo sie jetzt ist. Ich vermisse sie schrecklich. Wie ich auch meinen Zwillingsbruder Ocean vermisse. Ich weiss, ich spreche nie viel über ihn. Vielleicht, weil es zu schmerzhaft ist, ihn zu vermissen. Vielleicht ist er aber auch der Grund, warum ich noch immer hier bin.
Nachdenklich betrachte ich Marlon. Nicht sehr lange nachdem er mit Rain zusammengekommen ist, hatte Rain scheinbar ihre Aufgaben hier erfüllt, wenn man dies so nennen kann. Die kurze Zeit mit meiner Schwester scheint ihm gut getan zu haben, auch wenn er noch immer mit sich selber zu kämpfen hat, was wiederum der Grund sein könnte, warum er noch hier ist.
Ich betrachte Nina, die eben aus der Hütte kommt und uns ein Bier und für sich selber einen Weisswein bringt. Alte Gewohnheiten legt man nicht so schnell ab.
„Danke Nina." Marlon lächelt Nina zu.
Das Leben zu zweit hätte ich mir zu Lebzeiten nie so vorgestellt. Aber damals hatte ich ja auch Nina nicht gekannt. Jedes Mal, wenn ich die Waldlichtung erreiche und sie auf der Veranda erblicke, flattert mein Herz, wie am ersten Tag, an dem ich sie kennengelernt habe.
Meine Mundwinkel wandern automatisch nach oben, wenn ich daran denke, wie ich sie damals das erste Mal gesehen habe. Sie stand vor mir und konnte mich nicht sehen. Sichtbar wurde ich für sie erst durch den Klang meiner Stimme. Die Art und Weise, wie sie mich ansah, sagte mir schon alles, auch wenn sie selber zu dieser Zeit noch nichts davon ahnte.
Nie hätte ich mir gedacht, dass ich so etwas einmal erleben würde und schon gar nicht nach meinem Tod! Obwohl hier der Ausdruck „erleben", aus bekannten Gründen, nur bedingt richtig ist.
Nina hat einige Zeit benötigt, um ihre Ängste beiseitelegen zu können, oder zumindest um zu lernen, damit umzugehen. Öfters sind wir deswegen aneinander geraten, aber irgendwie haben wir es immer wieder auf die Reihe gekriegt.
Ich habe keinen Dunst, warum mir die Liebe meines Lebens erst nach meinem Tod begegnet ist, aber auch wenn es nur für einen Tag gewesen wäre, wäre ich dem Schicksal von ganzem Herzen dankbar für diesen einen Tag.
Wir können nicht wissen, wieviel Zeit uns bleibt. Aber ich kann damit umgehen. Im Leben hat man schliesslich auch keine Garantie, kein Verfallsdatum des Glücks, oder? So ist es auch hier. Vielleicht bin ich morgen weg, vielleicht ist es Nina. Und wenn man es gut mit uns meint, können wir unser Glück noch lange geniessen. Es ist besser, nicht zu wissen, wie lange.
Manchmal frage ich mich, warum Nina noch hier ist. Ich vermute stark, dass ihre enge Bindung mit Lukas dahinter steckt. Auch wenn es mir manchmal Mühe macht, ihre Art der Verbindung zu verstehen, bin ich dankbar, wenn mir Nina dadurch etwas länger erhalten bleibt. Vielleicht mischt auch Damian zu einem gewissen Grad noch mit. Er und Nina haben noch immer regelmässig Kontakt per Mail.
Um Nick jedenfalls muss man sich wohl keine Sorgen machen. Er und Felicitas haben sich gut gefangen. Auch wenn das Leben für ihn nicht einfach ist mit seiner Behinderung, so hat er mit Felicitas doch sowas wie ein neues Glück gefunden.
Ich muss schmunzeln, wenn ich daran denke, wie Rain von Anfang an gepusht hatte, die beiden miteinander bekannt zu machen. Als hätte sie's gewusst. Das ist die Rain, die ich kenne. Und die ich vermisse.
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Mails hinter die Nebelgrenze #IceSplinters18 #teaaward2018 #GoldenAward_2018
General FictionEine Sekunde. Eine klitzekleine Sekunde, die alles beendet. Die alles auf den Kopf stellt. Nina war eigentlich recht zufrieden mit ihrem Leben. Bis zu diesem Moment, der alles verändert, dem Moment, der sie aus dem Leben reisst. Wie soll sie dami...