eins

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Ich seh mich um. Die Umgebung, in der ich mich wiederfinde, ist neblig und unwirklich, genau wie ich mich fühle. Abgesehen vom Schmerz. Der fühlt sich mehr als echt an, wenn ich auch nicht genau definieren kann, woher er kommt.

Ich hebe meine Hand und möchte mir, aus alter Gewohnheit wohl, eine Haarsträhne aus dem Gesicht streichen. Und... ich seh meine Hand nicht. Ich kann gar nichts sehen. Nur grauer Nebel.

Ich seh an mir runter... und alles sieht genauso aus, wie die Hand, die ich nicht sehe. Nichts. Ich kann meinen Körper nicht sehen! Was ist mit meinem Körper passiert? Oder stimmt was mit meinen Augen nicht? Ich fühle, wie das unwirkliche Gefühl langsam einer grösser werdenden Unruhe weicht und sich langsam zu einer Panik mausert. Kalter Schweiss bricht mir aus.

„Du benötigst deinen Körper nicht mehr."

Ich benötige WAS nicht mehr? Obwohl die Stimme, die aus dem Nichts zu kommen scheint, sanft und freundlich klingt, jagt sie mir einen heiden Schrecken ein. Was soll das heissen... bin ich verschwunden, nicht mehr existent? Weg? Einfach so? Ich schliesse die Augen und versuche mir einzureden, dass es nur ein übler Traum ist.

„Es ist kein Traum." Die Stimme klingt fast etwas betrübt. „Tut mir leid."

„Woher weisst du..?" Ich hab doch gar nichts gesagt, woher weiss er...Darauf krieg ich nur ein Schmunzeln von der mysteriösen Stimme. Toll! Er scheint sich über mich lustig zu machen. Genau, was ich gebraucht habe!

„Wer bist du? Und wo bist du?" ich versuche meine Stimme sicher klingen zu lassen, was mir nicht gelingen will.

„Ich bin Ben. Oder Benjamin. Was dir lieber ist. Ich bin da flexibel." Er räuspert sich „Und äh... ich bin hier, so wie du."

Ich versuche etwas zu sehen, kann noch immer nichts erkennen. Dieses ganze Grau macht mich noch vollkommen verrückt! Wie wär's mit ein wenig Grün, Gelb oder Blau? Sogar Pink wär mir jetzt willkommen. Einfach wenigstens etwas sehen. Etwas erkennen.

Wie kann es nur sein, dass ich an einen Ort geraten bin, der der Inbegriff meiner Ängste zu sein scheint, unter welchen ich mein Leben lang gelitten habe? Immer habe ich versucht ihnen zu entkommen. Immer haben sie mich wieder eingeholt. Und nun bin ich hier, als wäre mein Leben nur das unwirkliche Zwischenspiel, bevor das Unvermeidliche sich ereignet.

Ich will hier weg. Will raus hier. Zurück! Zurück dahin, wo ich hergekommen bin! Ich beginne wieder zu zittern und das Atmen macht mir Mühe.

„Entspann dich. Es ist alles in Ordnung, Nina." Ich kann nicht anders, als zwischen meinen rasselnden Atemzügen bitter aufzulachen. Alles in Ordnung? ALLES IN ORDNUNG? Na klar doch!

Doch ich sehe ein, dass ich so nicht weiterkomme. Ich bemühe mich, mich etwas zu beruhigen.

„Wo... wo bin ich?" Wieder versuche ich, meinen Blick an etwas festzuhalten. Ich habe keinen Dunst, wohin ich schauen soll, wenn ich diesen Ben ansprechen will.

„Bei uns." So seine geistreiche Antwort.

Ich unterdrücke den Reflex, die Augen rollen zu wollen. „Und das heißt?"

„Bei uns, deren Uhr aufgehört hat, sich zu drehen." Die Stimme macht eine theatralische Pause, wohl um dem Gesagten, die nötige Dramatik zu verleihen. „Bei den Nebelkindern."

Aha... AHA...? „Heißt das, ich bin...? ...?"

„Ja, Nina, du bist gestorben."

Das ist grad etwas viel für mich. Ich hab abermals das Gefühl, als krieg ich keine Luft. Obwohl, wie mir grad bewusst wird, ich nicht mal weiß, OB ich noch atme und ob ich überhaupt Sauerstoff benötige. In meinem ZUSTAND. Mir fehlen gewissermaßen die Erfahrungswerte mit Zuständen wie diesem.

„Ich krieg's grad nicht so auf die Reihe... Kann... kann ich mich setzen? Ich meine, so ohne Körper?"

„Du kannst alles. Auch wenn es nur in deinem Kopf geschieht. Nimm deine Vorstellungskraft zu Hilfe und setz dich ruhig hin. Wo auch immer du willst."

Sein Ernst? Ich soll mir meinen Stuhl denken? Ich komme mir ziemlich bescheuert vor, wenn ich mir vorstelle, dass ich mir ne Sitzgelegenheit denken soll, damit ich mich setzten kann. Aber da ich das Gefühl habe, meine Beine, die ich ja eigentlich nicht mehr habe, mich nicht mehr lange tragen werden, versuche ich, mir einen Hocker vorzustellen.

Ich schaue angestrengt ins Nichts und versuche den Hocker zu sehen. Zuerst scheint's nicht zu funktionieren, aber als ich schon fast aufgeben will, kann ich schwache Umrisse erkennen. Die langsam stärker werden. Es scheint tatsächlich zu funktionieren!

Vorsichtig versuche ich mich draufzusetzen.

„Du kannst dir auch was Bequemeres vorstellen. Ne einladende Couch oder so."

Ich schau ihn ungläubig an. Ich frag mich echt gerade, ob er einen an der Waffel hat. Aber na ja, vielleicht hat er gar nicht so Unrecht. Wenn's mit nem Hocker funktioniert, warum nicht auch mit was anderem?

Ich versuche mir also einen einladenden Sessel vorzustellen, einen in der Art, in die man sich richtig reinfläzen kann. Rot, mit Verschnörkelungen und allem. Auch das funktioniert zu meiner Überraschung. Er sieht wunderschön aus. Vorsichtig setze ich mich drauf. Ich habe mich zwar nie als besonders fantasievoll gehalten, aber auf eine absurde Weise, scheint der Tod mich zu beflügeln.

Die ganze Möbel-Vorstellerei hat mich etwas von meiner Panik abgelenkt.

Ben erzählt mir was von einer Art Sammelstation und Nebelkindern. Ich versteh das alles nicht. Bin ich in einer schrägen Parallelwelt gelandet? Einer grauen, schrägen Parallelwelt? Einer toten, grauen, schrägen Parallelwelt?

Obwohl ich jetzt zwar immerhin sicher in einem Sessel sitze, ist das Ganze nicht minder angsteinflössend. Genau davor hatte ich mich immer gefürchtet! Ich hatte schon immer das Bedürfnis, mich an Dinge zu klammern, die mir viel bedeuten. Allem voran mein Leben, meine Freunde, meine Familie. Und als hätte ich es selber heraufbeschworen, ist mir nun scheinbar genau das widerfahren, wovor ich mich am Meisten gefürchtet habe. Ich habe es verloren. Ich habe Alles verloren!

Es ist eine Weile still.

Ich schlucke. „Warum bin ich hier? Kommen alle Menschen, die sterben hierher?

„Nein, nicht alle."

„Warum ich?"

Ben seufzt. „Das darf ich dir leider nicht sagen. Das musst du selber rausfinden."

Toll! Das ist dann wohl das Rätsel meines Lebens. Oder besser das meines Todes!

„Hey Ben... Kann ich dich noch was fragen?"

„Schiess los."

„Warum Nebelkinder? Das mit dem Nebel kann ich ja nachvollziehen, aber Kinder? Ich geh mal davon aus, dass einige von uns, wie auch ich, schon ziemlich erwachsen sind, wenn sie sterben, oder?"

„Sind wir nicht alle auf die eine oder andere Weise Kinder?"

Ich lasse mir seine Worte durch den Kopf gehen. Vielleicht hat Ben nicht ganz Unrecht. Was bedeutet schon das Alter. Innerlich bleibt man wohl immer ein wenig Kind. Und erst recht, wenn man keinen Körper mehr hat, der altern kann.

Obwohl die ganze Situation schon ziemlich abstrus ist, gefällt mir der Gedanke. Was, wenn es kein Alter gibt? Es nicht relevant ist? Was bedeutet dann Zeit? Wochen, Tage, Stunden...? Die ganze Menschheit rennt der Zeit hinterher. Egal, wieviel man zur Verfügung hat, man hat immer das Gefühl, es sei zu wenig. Irgendwie ist das ganze Leben doch auf Zeit aufgebaut und durch ebendiese limitiert. Und vielleicht hab ich mich durch dieses Gefühl, stärker noch als Andere, einschränken lassen.

Ich habe noch tausende Fragen. Eine davon ist, warum ich Schmerzen habe. Wenn es stimmt, dass ich keinen Körper mehr besitze, warum hab ich dann Schmerzen? Der Schmerz scheint mich erdrücken und mich lahm legen zu wollen.

Aber ich bin mir nicht sicher, ob Ben noch hier ist. Zudem fühl ich mich doch ziemlich erledigt. Zu sterben ist wohl doch kein Sonntagsspaziergang.

Mails hinter die Nebelgrenze #IceSplinters18 #teaaward2018 #GoldenAward_2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt