Ich habe den Überblick über die vergangene Zeit etwas verloren. Wie lange ist es nun her, dass ich gestorben bin? Drei Wochen? Zweieinhalb? Vier? Ich weiss es nicht mehr wirklich, vielleicht auch, weil hier die Zeit eine untergeordnete Rolle spielt. Wie auch das Alter. Das gibt ein komplett neues Lebensgefühl, oder sollte ich vielleicht eher sagen ein komlett neues Todesgefühl? Hätte wohl nie gedacht, dass dieses Wort einmal Sinn machen würde für mich.
Na ja, jedenfalls hab ich mir gedacht, ich könnte mal meine neuen Freunde und Begleiter hier einladen zum Abendessen. Etwas zusammen sitzen und quatschen. Natürlich sind das nicht allzu viele. Rain, River und Ben... das wären dann wohl schon alle. Natürlich gibt es noch mehr „Bewohner" hier, aber die kenne ich noch nicht wirklich. Irgendwie war ich die ganze Zeit zu beschäftigt, um weitere Bewohner kennen zu lernen.
Ich könnte den dreien natürlich auch sagen, dass sie den einen oder andern Freund mitbringen sollen, damit ich die Chance habe, ein paar weitere Leute kennen lernen.
Ein paar Stunden später stehe ich etwas überfordert in meiner Küche. Ich habe das Essen gleich für heute Abend angesetzt und Rain benachrichtigt, dass sie die andern mitbringen soll. Aber irgendwie hab ich nicht bedacht, dass ich einen Plan haben sollte. Einen Plan, was ich kochen will und so in etwa, wie viele Leute kommen werden. Aber ich gehe mal davon aus, dass der Ansturm nicht zu gross sein wird.
Ich denke, ein altbewährtes Gulasch auf dem Feuer vor meinem Haus wär da ideal. Natürlich könnte ich mir das Gericht auch durch meine Vorstellung herbeidenken, aber irgendwie wäre das nicht dasselbe. Obwohl ich früher nie gerne gekocht habe (das war schliesslich immer Lukas' Aufgabe), spüre ich heute einen regelrechten Drang zu kochen.
Ich habe oft genug zugesehen, wie Lukas für uns Gulasch gekocht hat, dass ich das hinbekommen sollte. Aber als ich anfange die Zwiebeln zu schneiden, fehlt Lukas mir plötzlich unheimlich. Kochen ohne Lukas ist nicht dasselbe! Ich sehe sein fröhliches und doch konzentriertes Gesicht förmlich vor mir. Es war seine Leidenschaft zu kochen. Vor allem und gerade auf dem offenen Feuer. Was würde ich jetzt dafür geben, wenn er mit uns hier sein könnte! Wenn er auch ein Teil meines Lebens hinter der Nebelgrenze sein könnte.
Als ich meinen Kopf hebe und aus dem Fenster schaue, seh ich eine Gestalt aus dem Nebel auftauchen. Natürlich ist es River. Warum erstaunt mich das nicht? Ich spüre, wie sich meine Mundwinkel etwas nach oben ziehen.
„Hey, hey... Rain hat mir gesagt, dass sich hier heute die illustre Gesellschaft der Nebel versammelt! Danke für die Einladung!" Seine honigfarbenen Augen blitzen verschmitzt, als er am Türrahmen lehnt und mich anlächelt. Dasselbe breite und herzliche Lächeln, wie Rain es hat. Von wem sie es wohl geerbt haben? Vom Vater oder der Mutter?
Ich geh auf ihn zu und umarme ihn. Wieder einmal spüre ich dieses angenehme, warme Gefühl, das sich in meinem Bauch ausbreitet.
„Du bist aber noch etwas früh... ich wollte gleich anfangen zu kochen und ein gutes Gulasch benötigt gut und gerne 3-4 Stunden auf dem Feuer."
„Du kochst wirklich selber?? Warum..." River schaut mich an und verstummt. „Ich verstehe... du vermisst das Ritual vom Kochen und Essen mit allem Drum und Dran."
River steht noch immer dicht vor mir und schaut mir direkt in die Augen. Mit seiner linken Hand streicht er sachte eine Strähne aus meinem Gesicht. Er ist mir so nah, dass ich beinah seinen Atem spüren kann. „Vielleicht kann ich dir ja helfen? " Seine Stimme ist fast nur ein Flüstern.
Ich atme tief ein, da mich seine Nähe irgendwie benommen macht. „Gerne... du könntest..." etwas hilflos schaue ich mich um und entferne mich einige Schritte, um meine Gehirnzellen wieder zu reaktivieren.
„Ich fange mal mit Gemüse schneiden an", kommt mir River zu Hilfe.
„Perfekt!", grinse ich und schüttle insgeheim etwas über mich selber den Kopf. Warum bin ich so von der Rolle...? „Hast du eine Ahnung, wer bzw. wie viele Leute heute Abend kommen werden?"
River überlegt einen Moment. „Ich denke Ben bringt zwei Kumpels mit und ein weiterer Neuer, Rain möchte Lyna, eine ihrer Freundinnen mitbringen und von meiner Seite wird wohl Joleen kommen, also werden es mit uns zwei ca. neun Personen sein, wenn ich richtig gezählt habe."
Bei dem Namen Joleen spür ich einen kleinen Stich. Wer zum Teufel ist Joleen? Fragend schau ich River an. „Wer ist...?" beginne ich.
„Eine Freundin von mir... ich bin sicher, du wirst sie mögen." River zeigt mir sein breitestes Lächeln.
Irgendwie beschleicht mich das Gefühl, dass er sehr wohl weiss, dass ich grad nicht allzu grosse Freudensprünge vollführe. Wie kann er nur... eine 'Joleen' zu mir nach Hause bringen? Obwohl ich ja gesagt habe, man könne Freunde mitbringen, also kann ich nicht viel dagegen sagen. Und überhaupt... River kann ja eh tun und lassen, was er möchte, ist ja schliesslich nicht mein Bier!
Nachdem das Gulasch schon mehr als drei Stunden auf dem Feuer gebrutzelt hat, treffen die ersten Gäste ein.
Rain kommt mit Lyna im Schlepptau an, welche ich sehr sympathisch finde, auch wenn sie eher introvertiert zu sein scheint, im Gegensatz zu Rain.
Ben taucht mit drei Männern auf. Leo, den ich auf etwa 45 schätzen würde, ist etwas untersetzt mit Schnurrbart aber einem fröhlichen, gutmütigen Gesicht. Dennis ist um einiges dünner als Leo, wenn nicht sogar etwas schlaksig, mit eisblauen Augen und ist scheinbar der Neue. Der dritte im Bunde ist Marlon, ein jüngerer Typ, vielleicht so um die 25, mit Tatoos und Piercings.
Alle sind da, bis auf diese ominöse Joleen. Ich versuche den Gedanken an Rivers Freundin zu verdrängen und konzentriere mich auf die anderen Gäste.
River hilft mir, alle mit Getränken zu versorgen und Stühle nach draussen zu schleppen. Wir beschliessen, direkt ums Feuer zu essen, auch wenn das heisst, dass jeder seinen Teller in den Händen halten muss.
Ich setze mich auf die Bank und bald darauf setzt sich Leo zu meiner linken Seite.
„Na, wann hast du denn unsere Gemeinschaft hier bereichert? Bist wohl noch nicht so lange hier, oder? Zumindest habe ich dich noch nie gesehen."
„Nein, aber ehrlich gesagt, bin ich grad etwas überfragt, wie lange es nun schon ist. Ich vermute mal, ein paar Wochen", entgegne ich. Leo ist mir richtig sympathisch. Er wirkt wie ein gemütlicher, gutmütiger Bär.
„Drei Wochen und fünf Tage."
„Was meinst du?" etwas verwirrt schaue ich zu River auf, der vor uns steht.
„Du bist seit drei Wochen und fünf Tagen hier."
„Na da hast du's, Leo! Andere führen genauer Buch über mich, als ich selber", scherze ich. „Wie lange bist du denn schon hier?"
Leo überlegt eine Weile. „Ich denke, mittlerweile sind ca. sieben Jahre und Marlon ist seit zwei Jahren hier. Hey Marlon! Setz dich mal zu uns!"
Marlon kommt zu uns rüber und setzt sich zu meiner rechten Seite. Marlon ist um einiges ruhiger als Leo, aber nicht weniger sympathisch. Wie Leo mir munter erzählt, ist seine Bleibe scheinbar ganz in der Nähe von meinem Häuschen, Marlon hingegen hat sich etwas weiter entfernt, an einem Waldrand niedergelassen.
Auf einmal erklingt eine etwas rauchige, aber angenehm warme Frauenstimme. „Hey Leute!!"
Die Aufmerksamkeit Aller liegt auf der Person, welcher die Stimme gehört. „Joleen! Endlich bist du da!"
Die Frau, die unseren Kreis betritt, ist einfach wunderschön und bezaubert durch ihre Ausstrahlung. Ihre braunen Locken wirbeln wild um ihren Kopf und ihre grossen grünen Augen drücken Schalk und Lebenslust aus.
Alle umarmen sie und auch Rain drückt sie an sich. „Joleen! Endlich sehen wir uns wieder!" Auf eine verquere Art gefällt es mir nicht, wie vertraut Rain Joleen begrüsst.
Als River hinter ihr mit leiser Stimme „Na hallo Kleines!" sagt, wirbelt sie herum und wirft sich mit einem gejauchzten „River" in seine Arme.
Eine verdammte Ewigkeit bleiben sie so stehen und halten sich umklammert, während River die Augen geschlossen hält.
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Mails hinter die Nebelgrenze #IceSplinters18 #teaaward2018 #GoldenAward_2018
General FictionEine Sekunde. Eine klitzekleine Sekunde, die alles beendet. Die alles auf den Kopf stellt. Nina war eigentlich recht zufrieden mit ihrem Leben. Bis zu diesem Moment, der alles verändert, dem Moment, der sie aus dem Leben reisst. Wie soll sie dami...