R i v e r

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Rains Miene wird ernst. „Du solltest Kontakt mit ihr aufnehmen."

Mein Gesicht zeigt wohl grad nichts als Fragezeichen. Habe keinen Dunst, wovon sie spricht.

„Mit der Frau, die dich umgenietet hat" meint Rain mit einem Schulterzucken.

Ich kann grad nicht wirklich glauben, was sie da von sich gibt. Ich soll WAS? Ich kann nichts sagen, schaue sie nur an, als wäre sie von allen guten Geistern verlassen. Nein, alls hätte sie nie irgendwelche Geister gehabt.

„Das ist die beste Therapie, deine Wut zu überwinden. Glaub mir! Ich weiss, wovon ich spreche." Rain schaut mir eindringlich in die Augen. Ausnahmsweise scheint ihre Stimme die Leichtigkeit verloren zu haben.

„Also erstens, wäre sie wohl die Letzte, die ich sehen oder kennenlernen will, das kannst du mir glauben! Zweitens, woher willst du wissen, dass es eine Frau war?"

Ich fass es nicht, was sie mir hier vorschlägt. Für Nick, Lukas oder auch Damian und meine Eltern da sein, ok. Sofern man das noch „da sein" nennen kann. Aber warum, um alles in der Welt, soll ich der Person, die alles zunichte gemacht hat, was ich in meinem Leben hatte, meine Zeit und Aufmerksamkeit schenken? Da behalt ich doch meine Wut lieber für mich. Irgendwie tut's ja sogar gut, auf Jemanden wütend sein zu können.

„Ben hat mir erzählt, dass es eine junge Frau war."

Hier verbreiten sich die Neuigkeiten scheinbar schneller als im Internet. Oder auf Whatsapp.

„Und woher will Ben das wissen?"

„Wir können uns hier beinah alle Informationen beschaffen, wenn wir sie wollen. Vergiss nicht, wir können uns ziemlich frei bewegen, da uns so gut wie Niemand sieht." Rain grinst mich frech an.

Ich schüttle den Kopf. Nie im Leben möchte ich etwas mit dieser Person zu tun haben. Sie hat mir alles kaputt gemacht. Durch sie habe ich alles verloren, was ich geliebt habe. „Vergiss es! Niemals! Das kannst du dir gleich abschminken."

Rain zuckt gleichgültig mit den Schultern und meint: „Du musst dich ja nicht gleich entscheiden."

Ich schnaube durch die Nase. „Mal abgesehen davon, dass ich wirklich null Bock dazu habe, wie sollte das funktionieren? Niemand kann mich sehen oder hören. Wie sollte ich denn Kontakt mit ihr aufnehmen?"

„Wenn man will, gibt es immer eine Möglichkeit. Nutze deine Vorstellungskraft."

Ich stöhne auf. Nicht schon wieder! Zum Glück hab ich ja auch nicht vor, sie zu kontaktieren, daher bleibt es mir erspart, mir über Rains Antwort den Kopf zu zerbrechen. Ich glaube, meine Vorstellungskraft wird zurzeit etwas überstrapaziert.

„Komm mit!" Rain steht auf und winkt mir, ihr zu folgen. „Ich zeig dir unsere Bleibe."

„Eure Bleibe?"

„Ich wohne da mit meinem Bruder. Du wirst ihn gleich kennenlernen, wenn du magst."

„Dein Bruder ist auch hier? Das heisst, er ist auch gestorben?" Ich möchte mir nicht mal ansatzweise vorstellen, wie sich ihre Eltern gefühlt haben, gleich zwei ihrer Kinder zu verlieren. Das Leben ist manchmal mehr als unfair.

„Ja. War ne ziemlich bescheuerte Sache damals." Rain verzieht ihren Mund zu einem schiefen Grinsen, aber sofort erhellt sich ihre Miene wieder. Das Mädel ist scheinbar unverwüstlich.

„Na komm."

Rain führt mich durch die graue Nebellandschaft. Ich kann nichts erkennen. Alles sieht gleich aus. Irgendwann bleibt sie stehen.

Mails hinter die Nebelgrenze #IceSplinters18 #teaaward2018 #GoldenAward_2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt