sieben

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Als ich zurück bin, fühl ich noch ausgelaugter, noch pessimistischer als vor dem Besuch bei Nick. Ich weiss schlichtweg nicht, wie ich die Energie aufbringen soll, weiterzumachen. Wofür auch weitermachen? Was weitermachen? Wozu soll ich hier vor mich hinvegetieren. Um mich gibt's nur nebliges Grau und das Elend meiner Freunde und Familie, das ich nicht ändern kann. Was anderes gibt's nicht.

Aber was hab ich denn für eine Wahl, als einfach weiterzumachen? Ich kann mich ja nicht mal umbringen, wie sonst Jemand, der einfach nicht mehr kann. Ich bin ja schon tot und genau das hat mich in diese verfluchte Situation gebracht.

Ich sitze auf meinem Sessel und lass meinen Tränen freien Lauf. Ich wundere mich, dass ich überhaupt noch welche zur Verfügung habe. Dass ich nicht schon ausgetrocknet bin, wie ne Rosine. Ich vergrabe mein Gesicht hinter meinen Armen und fühl mich so hilflos und nutzlos wie noch nie.

Ich spüre eine Hand, die über meinen Kopf streicht. Ein Kuss auf meinem Haar. „Shhh...Ist schon gut, Nina. Es wird besser mit der Zeit, glaub mir." Hör ich Rivers sanfte Stimme neben mir.

Ich fasse nach seine Hand und halte sie. Mein Gesicht halte ich jedoch noch immer hinter meinen Armen versteckt. Ich möchte nicht, dass mich jemand so aufgelöst, so verheult sieht. Trotzdem tut es gut, seine Hand zu halten. Etwas menschliche Wärme zu spüren.

Wir sitzen eine Ewigkeit so da. Sprechen nichts. Sitzen nur da und langsam beruhige ich mich wieder. Kann wieder etwas durchatmen.

„Danke River." Sage ich schniefend. „Danke, dass du für mich da bist. Ich weiss nicht, was ich ohne euch tun würde."

River schweigt einen Moment und seufzt leicht. „Egal was ist, egal was du brauchst. Ich bin da für dich. Hörst du?" Er hebt meine Hand, die er immer noch in seiner hält, hoch und verpasst ihr einen leichten Kuss. "Egal was..."

Ein Gefühl der Wärme und Dankbarkeit überkommt mich. Ich habe so Jemanden wie River und Rain doch gar nicht verdient. Ich habe ihre Freundschaft nicht verdient. Ich konnte ihnen nie etwas geben oder etwas für sie tun und trotzdem sind sie immer für mich da. Ihre Freundschaft ist zurzeit alles, was ich habe. Das Einzige, was diese bescheuerte Umgebung und Wendung in meinem Leben oder besser in meinem Ableben, irgendwie erträglich macht.

„Nina" meldet sich River wieder zu Wort „Du solltest mal daran denken, es dir etwas gemütlicher einzurichten hier. Du kannst nicht immer nur auf deinem Sessel sitzen. Du solltest dich wohlfühlen hier."

Ich kann nicht anders, als die Augenbrauen nach oben zu ziehen, als er von wohlfühlen spricht. Ich soll mich hier wohlfühlen? Sein Ernst?

„Ja, ich weiss, es klingt in deinen Ohren wohl absurd. Aber du wirst weder heute noch morgen hier wegkommen. Also solltest du es dich so schön als möglich einrichten."

„Du hast ja Recht River." Ich seufze. „Aber zur Zeit hab ich einfach nicht den Kopf und die Energie dazu."

River lächelt mich an und meint: „Ich helf dir dabei, ok? Muss ja nicht gleich heute sein."

„Entschuldigt, wenn ich euch störe." Ben räuspert sich, um auf sich aufmerksam zu machen.

„Hi Ben." Vielleicht hat River Recht. Vielleicht sollte ich mir mal ne Haustür mit ner Klingel zulegen. Wär schon mal n'Anfang.

„Ich habe gehört, du warst bei Nick?"

Ich seufze. Möchte lieber gar nicht dran denken. „Ja, war ich. Mit mässigem, bis gar keinem Erfolg. Es fühlt sich alles noch viel schlimmer an, als erwartet. Er ist am Ende und verzweifelt und ich fühl mich dadurch nicht grad rosig, wie du dir vorstellen kannst." Und das ist noch seeehr untertrieben.

„Du musst auch keinen Erfolg vorweisen, Nina. Wichtig ist, dass du da bist, für sie. Oder du wenigstens auf die Art da bist, wie du es sein kannst... in deiner Situation"

„In meiner Situation. Schön umschrieben, Ben." Ich zwinge meinem Mund ein schiefes Grinsen auf. „Wie kann ich da sein für sie, wenn mich Niemand wahrnimmt? Wenn ich nur ihr Elend sehe und mich dadurch selber nochmals viel elender fühle? Wozu soll das gut sein?"

Ben schweigt einen Moment. „Du musst Geduld haben Nina."

„Geduld, bis was passiert?" Langsam werd ich wieder wütend. Ich soll... ich muss... und eigentlich kann ich doch eh nichts. Bin zu nichts fähig hier, zu nichts nütze. Und trotzdem soll und muss ich die ganze Zeit.

„Das weiss ich nicht so genau. Das ist bei jedem anders. Aber das macht es doch auch spannend." Ben grinst leicht.

Ich schnaube durch die Nase. Hab grad nicht so viel übrig für seinen Humor.

„Ok, ok... ich weiss schon." Ben erhebt beschwichtigend die Hände und schaut mich nun wieder ernst an. Nach einer Weile fährt er fort. „Hör mal Nina. Ich hab da was für dich."

„Was ist es?"

„Einen Brief. Oder besser gesagt ein Mail. Ich hab es für dich ausgedruckt."

„Ein Mail für mich? Wer schreibt mir denn eine Mail? Funktioniert meine alte E-Mail-Adresse denn überhaupt noch?" Ich bin ehrlich verwundert. Wer um Himmels Willen soll mir eine Mail schreiben? Ich vermute mal, dass die meisten die mich kennen im Bilde sind, dass ich meine Mails nicht mehr allzu oft checke.

„Ich habe keine Ahnung, ob deine Mail-Adresse noch funktioniert, aber diese Mail ist in unserer No-Adress-Mailbox eingegangen."

„Eure WAS-Adress-Mailbox?" Langsam hab das Gefühl, dass es wirklich nichts gibt, dass es hier nicht gibt.

„Wir haben da so ne Sammelbox für E-Mails, die ohne gültige Empfängeradresse umherschwirren und wenn wir Zeit haben, versuchen wir, sie den richtigen Empfängern zuzuordnen. So ist uns auch dieses Mail in die Hände geraten."

„Und wie kommt du darauf, dass das Mail für mich sein soll?"

„Lies es. Dann wirst du es sehen."

Ben überreicht mir ein gefaltetes Papier.

Ich nehm es an mich und halte es unschlüssig in den Händen. Als wüsste ich nicht, was ich damit tun soll. Und wenn ich ehrlich bin, weiss ich es tatsächlich nicht. Denn ich habe regelrecht verdammte Schiss davor, es zu lesen.

Es ist das erste, das ich aus der Welt der Lebenden, ich nehm zumindest an, dass es aus der Welt der Lebenden kommt, erhalte, seit ich gestorben bin. Vielleicht ist es auch das letzte Zeichen, das ich von da erhalte. Was, wenn es was Schlechtes ist? Was, wenn die einzige und letzte Nachricht, die ich aus meiner früheren Welt erhalte, eine schlechte Nachricht ist?

Gute Nachrichten waren in der letzten Zeit ja eher spärlich gesät, daher geh ich mal nicht davon aus, dass diese Nachricht mich vom Hocker reissen wird vor Freude.

„Ich hab Angst Ben."

„Du brauchst keine Angst zu haben." Ben legt seine Hand beruhigend auf meinen Arm.

Ich schaue kurz zu River und als er mir aufmunternd zunickt, falte ich das Blatt langsam, mit zitternden Fingern, auseinander.

Mails hinter die Nebelgrenze #IceSplinters18 #teaaward2018 #GoldenAward_2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt