Es ist späterer Nachmittag und ich sitze in meinem Schaukelstuhl, halte ein Glas Rotwein in meinen Händen und schaue über die Lichtung. Die Sonne neigt sich den höchsten Kiefern zu und taucht alles in goldenes Licht.
Nachdem River gestern gegangen ist, war ich fast erleichtert. So blöd dies auch klingen mag und so gerne ich seine Gesellschaft auch habe, gestern war irgendwie alles anders. Der Kuss hat die Stimmung zwischen uns angespannt werden lassen. Okay, vielleicht war es auch nicht der Kuss an sich, sondern eher der Umstand, dass ich River von mir geschoben habe, was mir nicht gerade leicht gefallen ist.
Ich konnte den verletzten Ausdruck in seinen Augen sehen und das tat auch mir selber weh. Aber es ist besser so. Ich hätte ihm nie so nah kommen dürfen. Ich hätte es niemals zulassen dürfen!
Seufzend stehe ich auf und geh ins Haus. Ich hoffe nur, dass ich durch diese Aktion die Freundschaft zwischen mir und River nicht zerstört habe.
Eigentlich sollte ich mich gut und glücklich fühlen, schliesslich bin ich eben erst in ein wunderschönes Haus, inmitten einer malerischen Waldlichtung gezogen, aber tief in mir nagt diese Unruhe, ausgelöst durch das Dilemma mit River. Ich kann nicht still sitzen, weder drinnen, noch draussen, vor meinem Haus.
Vielleicht sollte ich bei Rain vorbeischauen? Aber da würde ich Gefahr laufen, Rivers Weg zu kreuzen und das ist nicht gerade das, was mir zurzeit vorschwebt.
Sollte ich vielleicht lieber Marlon einen Besuch abstatten? Oder Lukas? Na ja, ehrlich gesagt habe ich für einen Besuch bei Lukas gerade nicht genügend Energie. Zwar würde er vielleicht sogar mein Dilemma verstehen, wenn ich es ihm denn erzählen könnte, aber er kann mich ja nicht hören, was die Kommunikation doch erheblich erschwert, egal wie nahe wir uns immer waren oder noch immer sind.
Ich fühl mich gerade ganz und gar nicht wohl. Weder seelisch, noch körperlich. Mein Körper, der ja nicht wirklich vorhanden ist, fühlt sich an, als wäre die ganze Energie durch ein Leck entwichen. Und mein Gemütszustand... den will ich lieber erst gar nicht zerpflücken.
Wie kann das nur sein? Gestern Morgen noch, war ich so glücklich, wie schon lange nicht mehr (zumindest nicht, seit ich nicht mehr unter den Lebenden weile) und jetzt erscheint alles farblos und schwermütig, nur weil die Person, an welcher mir so viel liegt, einen Schritt gewagt hat, der mich in Panik versetzt hat. Da kann nicht mal die Sonne, die alles um mich herum vergoldet, was dran ändern. Die Schönheit der Natur um mich rum, dringt nicht zu mir durch.
Ich kann die Energie nicht aufbringen, mich irgendwohin zu bewegen. Deshalb wanke ich auf meine Veranda zurück, setze mich auf die Holzplanken und lasse mich nach hinten fallen. Liege auf dem Holzboden, meinen Blick auf das Vordach geheftet. Ich betrachte die rotbraunen Ziegel, die auf den hölzernen Balken liegen. An der hinteren Ecke des Daches hat ein Vogel sein Nest gebaut. So ist das dann wohl unser gemeinsames Zuhause. Wer ist den nun bei wem eingezogen? Der Vogel bei mir, oder ich bei ihm?
Wieder schweifen meine Gedanken zu der Person ab, die mich derzeit am meisten beschäftigt.
Was, wenn ich durch diese bescheuerte Aktion das Wichtigste, das ich hier habe verloren habe? River war, seit es mich hierher verschlagen hat, mein bester Freund und mein Vertrauter. Natürlich gibt es auch noch die andern. Rain. Marlon. Ben. Aber das ist nicht dasselbe. Sie sind nicht River. Und das Absurde am Ganzen ist, dass ich ihn aus Angst, ihn zu verlieren, von mir gestossen habe.
Da soll noch einer schlau werden! Ich jedenfalls blicke grad selber nicht mehr wirklich durch.
Scheinbar bin ich über meinen Grübeleien eingenickt, denn das nächste, das ich höre, sind leise Geräusche in meiner Nähe und eine Stimme: "Nina... Nina, alles in Ordnung?"
Ich erkenne Rains Stimme. Sie klingt etwas besorgt. Sehr wahrscheinlich findet sie ihre Freundinnen nicht alle Tage auf dem Fussboden schlafend vor.
Ihre Hand tastet nach meiner und drückt sie. Eigentlich würde ich meine Augen lieber weiter geschlossen halten, trotzdem drehe ich meinen Kopf und zwinge mich, die Augen zu öffnen.
"Was ist los, Nina?"
.....
Vor kurzem noch, habe ich mir jemanden gewünscht, mit dem ich sprechen könnte und nun weiss ich nicht, was ich sagen soll. Ich drehe meinen Kopf wieder von ihr weg und meine Augen suchen das Vogelnest.
Schliesslich spricht Rain: "River ist gestern Abend nach Hause gekommen und hat... na ja, nicht gerade glücklich ausgesehen. Aber er wollte mir nicht sagen, was ihm über die Leber gelaufen ist. Daher dachte ich, ich komme mal bei bei dir vorbei. Und nun liegst du auf dem Fussboden, starrst das Dach an und gibst auch keinen Ton von dir? Wollt ihr beide mich fertig machen??"
Trotz des schelmischen Tonfalls in ihrer Stimme, kann ich auch die Sorge darin hören.
Seufzend setze ich mich auf und schaue Rain an.
"River hat mich geküsst."
Rains Augen werden gross. "Und das ist so schlimm weil...?"
"... weil ich ein feiger Schisshase bin!"
"Kannst du mir das ein wenig genauer erläutern? Wovor genau hast du Schiss?"
Mir entfährt ungewollt ein tiefer Seufzer. "Es ist dieses verdammte Muster. Immer passiert es wieder!"
"Muster? Spricht du absichtlich in Rätseln, Nina?"
"Jedes Mal, wenn ich Jemanden wirklich in mein Leben lasse, jedes Mal, wenn ich mich auf jemanden einlasse, passiert etwas verherendes. Oder zumindest etwas, das uns gleich wieder auseinander reisst."
Rain schaut mich an und wartet, bis ich weiterfahre.
"Damals, als wir Jugendliche waren, sind Lukas und ich uns näher gekommen. Ein paar Tage darauf, haben ihm seine Eltern mitgeteilt, dass sie sich trennen und tausende von Kilometern weit wegziehen. Wir haben uns ganze elf Jahre nicht mehr gesehen! Ich habe mich über Jahre auf Niemanden mehr eingelassen. Nicht wirklich zumindest. Bis Nick kam. Eigentlich war Nick ja schon immer da, aber irgendwann haben wir uns verliebt. Ganze zwei Tage nach unserm ersten Kuss bin ich gestorben und Nick ist verkrüpelt zurückgeblieben."
Rain schweigt eine Weile und scheint zu überlegen.
"Vielleicht hat gerade deine Angst, dass etwas passieren könnte, das Ereignis auf den Plan gerufen?"
"Willst du damit sagen, dass ich diese bescheuerten Ereignisse selber ausgelöst habe, Rain? Dass ich mich sozusagen selber vor Felicitas' Auto geworfen habe??" Ich kann gerade nicht glauben, was da meine Freundin von sich gibt!
"Nein, natürlich nicht, Nina! Ich möchte damit nur sagen, dass Gedanken und Worte eine unheimliche Macht haben. Hattest du nicht immer schon diese irrationale Angst, das zu verlieren, das dir am wichtigsten und liebsten ist?"
Ich schweige einen Moment, bin gerade etwas perplex. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich Rain einmal von meinen Angstzuständen, unter denen ich früher litt, erzählt habe, aber ich denke nicht. Ist da was dran? Auch wenn es mir lieber wäre, wenn Rain Unrecht hätte, muss ich doch zugeben, dass es irgendwie plausibel und zur selben Zeit auch ziemlich abstrus klingt.
"Und wenn es so wäre... was kann ich dagegen tun? Soll ich mein Leb... ich meine soll ich für immer vor Allem davon laufen, das mir wirklich was bedeutet, um drohende Katastrophen zu abzuwenden?"
"Gute Idee, damit wäre allen geholfen!" scherzt Rain. "Nein, natürlich nicht. Das ist doch genau das, was du immer getan hast und trotzdem sind die Dinge immer passiert. Ich denke, du musst deine innere Einstellung ändern. Ja ja, ich weiss, dass das nicht so einfach geht. Aber na ja... sterben, kannst du ja schon mal nicht mehr. Diese Gefahr kannst du also getrost vergessen", zwinkert mir Rain zu.
"Ja, das find ich ungemein beruhigend!!" versuche nun auch ich zu scherzen.
Rain wird wieder ernst. "Vielleicht solltest du mal mit Marlon sprechen. Ich habe das Gefühl, dass er vielleicht das eine oder andere dazu sagen kann, das dir helfen könnte. Und vor allem: sprich mit River! Er sitzt zuhause, starrt in die Leere und ist vollkommen durch den Wind."
Verdammt! Warum muss Rain immer Recht haben!
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Mails hinter die Nebelgrenze #IceSplinters18 #teaaward2018 #GoldenAward_2018
General FictionEine Sekunde. Eine klitzekleine Sekunde, die alles beendet. Die alles auf den Kopf stellt. Nina war eigentlich recht zufrieden mit ihrem Leben. Bis zu diesem Moment, der alles verändert, dem Moment, der sie aus dem Leben reisst. Wie soll sie dami...