Kapitel 19 - Der Morgen

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Meine Sicht war verschwommen, meine Gedanken durcheinander. Ich fühlte mich wie im Himmel, wie wenn gerade alles Gute dieser Welt in mein Leben geprasselt wäre.

Doch dann zersprang es auf einmal. Ich sah mich, wie ich zwei Jahre lang jede Entscheidung auf Kailyn abgestimmt hatte. Wie ich seine Stimme gehört und ihn immer wieder im Spiegel gesehen hatte. Wie weh mir alles getan hatte, als hätte er mein Leben mit sich genommen, als er gegangen war.

Und auf einmal fiel eine Träne auf meine Wange. Ich liebte ihn, über alles und mehr als alles andere. Und genau in diesem Moment fühlte es sich an, als hätte sich nichts geändert. Doch das hatte es, alles hatte sich geändert. Und es würde nicht mehr sein wie früher.

Unaufhörlich liefen die Tränen stumm über meine Wangen. Er lag direkt neben mir, doch er würde nie wieder ganz mir gehören. Unerträgliche Stiche erreichten mein Herz, genauso wie sich ein riesiger Kloß in meinem Hals bildete.

Er atmete immer noch schwer, war in seinen Gedanken versunken. Doch anscheinend bemerkte er mein Weinen, da er den Kopf zu mir drehte. Ich presste die Augen aufeinander und versuchte, all die Schmerzen auszuhalten.

Sein Arm fuhr unter meinen Kopf, zog mich an seine nackte Brust. Als ich sein Herz schlagen spürte, schluchzte ich auf. Er drückte mich an sich, strich mir durch die Haare.

Plötzlich spürte ich etwas Nasses auf meiner Stirn. Ich sah durch den Tränenschleier zu ihm auf. Auch ihm rannen sie über die Wangen. Seine Augen waren gequält aufeinandergepresst, als wolle er irgendwas nicht sehen. Seine Lippen lagen aufeinander, als wolle er irgendwas nicht sagen.

Wir lagen bestimmt zehn Minuten so da, er strich weiterhin über mein Haar, mein Schluchzen beruhigte sich und die Tränen, die von seinen Wangen liefen, hörten ebenso auf.

Ich fühlte mich wohl. Auch, wenn ich wusste, dass es nicht richtig war. Dass es nichts ändern würde, nichts retten. Er hielt mich wie früher, berührte mich wie früher. Und es tat gut. Auch, wenn es gleichzeitig schmerzte, es tat mir gut.

Ich entspannte mich, hörte seinem Herzen beim Schlagen zu und kuschelte mich in die Decke ein. Er schien noch nachzudenken, atmete immer wieder tief aus. Aber er war ruhig, entspannt. Er fühlte sich wohl, das merkte ich.

Womöglich war es in diesem Moment das einzig Richtige, das Falsche zu tun.

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Ich wachte durch ein Klirren auf. Müde streckte ich mich, öffnete die Augen... und erstarrte. Ich lag immer noch in Kailyns Bett. Jetzt erkannte ich auch den Raum. Es war ein großes Zimmer, hohe Decken und weiße Wände.

Ein gläserner Schreibtisch, dazu passende Stühle, ein schwarzer Schiebeschrank und das Bett. Es war leer, er war also schon wach, hatte wahrscheinlich das Klirren bewirkt. Das Bett an sich war schwarz mit weißer Bettwäsche. Die Decke war komplett voll mit Falten, wir hatten sie gestern wohl so zerknittert.

Ich war immer noch nackt, meine Sachen lagen am Boden verstreut. Ich fühlte mich gut. Mein Magen kribbelte vor Aufregung, mein Herz schlug schneller. Mir war auch ungewohnt heiß, aber es ging mir gut. Ich fühlte mich geborgen.

Ich tapste aus dem Bett, sammelte meine Unterwäsche und meine Klamotten auf, die ich dann wieder anzog. Im Spiegel, der mitten im Raum stand, sah ich mich lange an.

Meine Augen glänzten, meine Wangen waren gerötet. Meine Haut schien noch reiner als normalerweise, beinahe makellos. Meine Haare waren zerrupft, also nahm ich das Haarband von meinem Handgelenk und band sie in einen schnellen Dutt. Ich atmete tief durch, drehte mich dann wieder um.

Ich tapste leise durch die Glastür ins Wohnzimmer. Es war ebenso modern eingerichtet, mit der Küche verbunden. Ein Glas-Esstisch mit Glasstühlen. Eine schwarze, edle Couch, davor ein weiterer Glastisch. Ein riesen Fernseher, daneben große Lautsprecher-Boxen. Ein Bücherregal, vor allem mit Ordnern darin. Eine Kücheninsel in der Ecke, weiß mit Hochglanz.

Und genau dort stand er. Die Haare ein einziges Chaos, die Augen dunkel. Die Wangen leicht rötlich, die Lippen voller als normalerweise. Er trug nur seine Boxer, die definierten Muskeln arbeiteten unter seiner Haut, während er ein Glas mit Wasser befüllte. Er hatte mich noch nicht bemerkt, hatte den Kopf gesenkt.

Ich biss mir auf die Lippe, diese Aussicht ließ mein Herz rasen. Ich wollte jeden Morgen so aufwachen. Ich wollte für ihn Frühstück machen, ihm einen Morgenkuss verpassen. Von ihm Baby genannt werden.

Er hob den Blick, sah mich in der Tür stehen. Sein Blick erst überrascht, dann überfordert. Aber keine Reue zu sehen, absolut nichts. „Morgen" brachte er raus. Seine Stimme kratzig, kehlig, noch tiefer als sonst. „Hey" hauchte ich. Ich ging langsam auf ihn zu. Wir wussten beide nicht, was zu sagen war, es war ungewohnt.

Er trank sein Glas auf Ex aus, ich lugte über die Anrichte der Kücheninsel. Ich sah dort drei leere Flaschen Vodka stehen, daneben zwei Packungen Zigaretten. Mein Blick fixierte sich darauf, ich erstarrte.

Und auf einmal wurde ich wütend. Während ich zwei verfickte Jahre lang auf ihn gewartet, ihm nachgetrauert hatte und die schlimmste Zeit durchmachen musste, betrank er sich und rauchte? Machte sich sein Leben kaputt? Er trank das Zeug wohl täglich, das Rauchen hatte sich offensichtlich wieder verschlechtert. So hatte er sich abgelenkt?!

Ich schnappte kurzerhand eine der Flaschen und eine Packung Zigaretten. „Ist das dein verdammter Ernst?! Du trinkst und rauchst wieder? Du hattest doch fast damit aufgehört! Du... wieso?!" ich sah ihn verzweifelt an, hielt ihm die Gegenstände unter die Nase.

Sein Blick wurde kalt, er fokussierte die Flasche mit seinen Augen. Kurz schluckte er, dann brachte er seine Augen wieder zu meinen.

Er schnappte mir die Flasche und die Zigaretten aus der Hand und knallte sie wieder auf die Anrichte. Ich erschrak und wich einen Schritt zurück. Er stand mir gegenüber, sein Kiefer mahlte.

„Sky, verdammt! Du kannst nicht nach zwei Jahren auf einmal wieder auftauchen und denken, mich zu kontrollieren! Ich hab mein eigenes Leben, meine eigenen Probleme! Und du bist kein Teil mehr davon, verstehst du das?! Du kannst mir nichts mehr vorschreiben, also lass es sein!" schrie er.

Seine Worte stachen sich in mein Fleisch, wie das imaginäre Messer von damals. Der selbe stechende, brennende Schmerz wie damals.

Tränen stiegen in meine Augen, ungläubig musterte ich ihn. Vielleicht hatte ich mich verhört? Vielleicht wollte er was anderes damit aussagen? Meine ganze Hoffnung wurde niedergeschmettert, wie durch einen Rasenmäher.

Sein Blick kalt, er sah an mir vorbei, als würde er mich nicht mehr sehen wollen. Wut und Trauer mischten sich zusammen, ein gebrochenes Herz. Ich war kein Teil seines Lebens mehr.

„Du wolltest mich nur wieder vögeln, hab ich recht? Du wolltest mich nur wieder flachlegen, dafür hast du das alles vorgespielt! Du hast das, was du gesagt hast, alles nicht ernst gemeint. Du wolltest nur jemanden für den Sex haben, das wars!" schrie ich ihn enttäuscht an, die Tränen kullerten nur so über meine Wangen.

Es war ein unbeschreibliches Gefühl, wie sich das Messer durch meine Haut zu bohren schien und mir jeglichen Boden unter den Füßen wegzog. Meine Beine zitterten, meine Hände ebenso. Mein Hals war von einem großen Kloß verstopft, ich konnte beinahe nicht atmen.

Wieder hatte ich mir Hoffnungen gemacht, mich auf ihn eingelassen. Und wieder hatte er mich weggeschubst. Der Mensch, den ich am meisten liebte.

Er sah mir nicht in die Augen, presste nur die Lippen aufeinander und hatte seinen Blick starr auf die Wand hinter mir gerichtet. Seine Hände krallten sich an der Anrichte fest, die Adern an seinen Armen stachen hervor.

Er nahm nicht ernst, was ich sagte. Er dachte, er könnte mich immer wieder von sich stoßen und ich würde ihm weiter nachlaufen. Doch damit war jetzt Schluss.

„Ich will dich nie wiedersehen, in meinem ganzen Leben nicht. Nie wieder!" schrie ich ihn voller Wut an, drehte mich um und lief zu der schwarzen Eisentür. Mit Schwung riss ich sie auf und stürmte hinaus.

Der Lift stand offen, also rannte ich hinein. Ich presste mich an die Wand, atmete tief durch. Die Tränen rannen, sie hörten einfach nicht auf.

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Ich verlass dich nichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt