Kapitel 31 - Melissa

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Dad kam wieder ins Zimmer, hatte tatsächlich eine Flasche Cola mitgebracht. Wie auf Kommando läutete es auch schon an der Tür. Dad wechselte einen nervösen Blick mit uns, sprintete dann zur Tür.

Kailyn und ich blieben mit einem Schmunzeln am Tisch stehen, während wir ein „Hey" und danach Kussgeräusche hörten. Die Geräusche dauerten beinahe eine Minute an, weshalb Kailyn mir „Wir waren nie so schrecklich frisch verliebt" ins Ohr raunte. Ich lachte tonlos auf, er hatte Recht.

„Sky, Kailyn, das ist Melissa. Melissa, das ist meine Tochter Sky und... sowohl ihr Freund als auch Ericas Sohn Kailyn." Dads Wangen waren rot gefärbt, als er ins Esszimmer trat. Hinter ihm folgte eine junge, hübsche Blondine.

„Hi, ich bin Melissa." Sie lächelte breit, war mir sofort sympathisch. Sie kam auf mich zu, ich hielt ihr die Hand hin und wollte mich vorstellen, als sie mich in eine leichte Umarmung zog. „Ich bin so froh, dich endlich treffen zu dürfen. Dein Vater redet ständig von dir." Sie hielt mich auf einen Meter Abstand, um mich zu betrachten.

„Mein Gott, du bist ja noch hübscher als auf den ganzen Bildern." Vor lauter Euphorie zwickte sie mir leicht in die Wange. Ich war ein wenig überrumpelt, zwang mir aber ein Lächeln auf.

Sie ging weiter zu Kailyn, umarmte auch diesen kurz. „Von dir kenne ich nur Bilder von früher. Mensch, du bist auch ein hübscher junger Mann geworden." Sie schüttelte fasziniert den Kopf, während sie Kailyns Gesicht unter die Lupe nahm. Dieser bedankte sich ein wenig unbeholfen.

„Die Pizza müsste gleich kommen, setzt euch hin. Ich hab hier Rotwein, Weißwein, Gin..." Sprudelte Dad los und hob die einzelnen Flaschen am Tisch hoch.

Amüsiert schüttelte Melissa den Kopf. „Dylan, die beiden sind doch noch gar nicht einundzwanzig." Sie blieb kurz ernst, dann brach sie aber in Gelächter aus, in das Dad miteinfiel. Hilfesuchend blickte ich Kailyn an, der die Schultern zuckte und schmunzelte.

„Das war nur ein Scherz, meine Süßen. Ich hatte meinen ersten Filmriss schon mit vierzehn, also keine Angst, ihr könnt ruhig vor mir trinken" sie setzte sich auf den Stuhl neben Dad. Nun nahmen auch wir beide Platz, sahen sie lächelnd an.

„Du hast Dad also bei der Arbeit kennengelernt?" fragte ich freundlich, während Dad schon wieder aufsprang, um das Geschirrtuch auf der Kücheninsel zurechtzuziehen, weil es ein wenig schief lag. Süß, wie aufgeregt er war.

„Ja, ich arbeite betriebsintern als Physiotherapeutin und eines Tages kam dein Dad reinspaziert, weil er sich eine Sehne gezerrt hatte. Naja, wir hatten ein, zwei Behandlungen und schon ist er mit einem Strauß Rosen vor mir gestanden und hat mich zum Essen eingeladen. Keine Sorge, ich bin ihn nicht gleich angesprungen, auch wenn ich das gewollt hätte..." sie sah meinen Dad mit einem sehnsüchtigen Blick an, bevor sie weiterredete.

„...Er hat mir bei insgesamt vier Treffen alles über sich erzählt, von deiner Mum und deiner..." sie zeigte auf Kailyn und danach auf mich. Das wurde nun ein wenig unangenehm.

„Naja und irgendwann ist es passiert. Das ist jetzt drei Monate her und ich bin süchtig nach ihm, nicht wahr, Schnuckelchen?" sie zwinkerte meinem Dad zu, der wie ein kleiner Junge grinste.

Kailyn und ich unterdrückten ein Lachen, ich krallte meine Hand unter dem Tisch in seine, um mich zurückzuhalten und weder Würgegeräusche zu machen, noch loszulachen. „Das... hört sich nett an" räusperte sich Kailyn.

„Ja, naja, es ist eben die typische Geschichte wie aus den ganzen Filmen. Mann trifft Frau zufällig, Frau findet ihn scharf, Mann führt Frau aus, Frau lässt sich verwöhnen, Mann kriegt Frau ins Bett." Sie lachte auf.

Ich hätte mich beinahe verschluckt. So viele Details wollte ich dann auch nicht wissen. Ich setzte aber ein amüsiertes Lächeln auf und füllte mein Glas mit Weißwein, von dem ich sogleich einen großen Schluck nahm.

„Und du hast schon immer in Chicago gelebt, oder...?" fragend sah ich sie an, während ich auch ihr Glas auf Wunsch mit Weißwein füllte. „Nein, nein. Ich komme eigentlich aus Idaho, bin erst vor fünf Jahren hier hergezogen. Aber ich liebe die Stadt, viel besser als das Kuhdorf, aus dem ich komme."

Ich musste ein wenig lachen, sie war mir sympathisch, auch wenn sie ein wenig überschwinglich, ziemlich offen und irgendwie hyperaktiv war. „Und du? Ihr kommt ja eigentlich aus Boston, warst du wiedermal dort?" Diese Frage kam überraschend.

„N-Nein, ich war schon seit drei Jahren nicht mehr dort. Aber es fehlt mir nicht, also..." ich nahm noch einen Schluck von meinem Wein, Kailyn neben mir verkrampfte sich ein wenig. Boston und meine Mum waren einfach ein heikles Thema. Doch das konnte sie ja nicht wissen.

Da läutete es an der Tür. „Pizza!" rief Melissa und klatschte erfreut in die Hände. Kailyn warf mir einen grinsenden Blick zu, wir dachten beide dasselbe. Was für eine verrückte Frau.

Dad öffnete die Tür, doch es war nicht der Pizzabote, der da stand. Elle stand mit einem breiten Grinsen im Türrahmen, dicht gefolgt von James, der ebenfalls seinen Kopf in den Raum steckte. „Esst ihr schon? Wir wollten uns nicht verspäten, aber Elle hat ihre Schuhe nicht gefunden." James lachte auf, streckte meinem Dad die Hand hin. Dieser sah ihn ein wenig verdattert an, schüttelte sie.

„Ich wusste nicht, dass ihr kommt" meinte Dad leicht verkrampft. „Tja, das Leben bringt immer wieder Überraschungen mit sich. Dylan, stell uns deine Freundin vor!" Elle drängte sich an ihm vorbei und sah Melissa durchdringend an, mit einem Schmunzeln.

Dad warf mir einen hilfesuchenden Blick zu, ich grinste nur über diese typische Elle-Aktion. James zog sich die Schuhe aus, Elle kam auf den Tisch zu. „Hi, ich bin Elle. Die Schwägerin. Naja, nicht mehr wirklich, aber irgendwie schon." Sie zuckte grinsend die Schultern und winkte Melissa zu, die überhaupt nicht überfordert war, sondern erfreut aufstand und Elle mit einem warmen Lächeln umarmte.

„War klar, dass die beiden Verrückten beste Freunde werden" raunte Kailyn mir zu, weshalb ich mir ein Lachen verdrückten musste. Er hatte irgendwie Recht.

Die beiden Frauen unterhielten sich über ihre Arbeit, Elle zeigte Melissa ein paar Fotos ihrer Malereien und Dads Freundin beschloss sogleich, ihr eines der Bilder abzukaufen, als Weihnachtsgeschenk für ihre Eltern.

Sie verstanden sich blendend, waren in ihrem Gespräch versunken, während James und Dad über die Expansion irgendeiner Firma sprachen. Ich hatte nicht gewusst, dass die beiden sich so gut verstanden. James fragte Kailyn ein wenig über Jackson & Wilk aus, mein Freund war sofort in seinem Element und erzählte voller Elan von neuen Projekten und den Wohltätigkeitsorganisationen, die das Unternehmen unterstützte.

Und ich? Ich saß stumm am Tisch, beobachtete das Geschehen. Und ich hatte dieses Gefühl im Bauch, als sollte ich genau hier sein, in genau diesem Moment. Das war meine Familie. Auch, wenn Erica fehlte und es anders war ohne sie, das war mein Zuhause.

Es war das erste Mal, dass sich Zuhause nicht wie ein Ort anfühlte, sondern wie die Gesellschaft dieser Leute. Wie sie sich alle miteinander unterhielten, alle dieses zufriedene Lächeln aufgesetzt hatten. Nach allem, was vor allem uns vieren in der Vergangenheit passiert war, schien es, als wäre in diesem Moment alles in Ordnung.

Kailyn und ich verabschiedeten uns, wobei wir Elle hoch und heilig versprechen mussten, bald wiederzukommen und sie regelmäßig anzurufen, dann stiegen wir in das Taxi, das wir uns gerufen hatten.

Wir hatten beschlossen, gleich heute Nachmittag Ericas Grab zu besuchen, damit Kailyn es hinter sich hatte. Er hatte gemeint, er wäre bereit und wolle es endlich erledigen.

Kailyn hatte zittrige Hände, er sah starr geradeaus, was mir zeigte, dass es ihm nun doch nicht ganz geheuer war, was er da vorhatte. Ich legte meine Hand in seine und drückte sie, sah ihn ermutigend lächelnd an. Er seufzte und ließ seinen Kopf auf meine Schulter sinken.

„Wir schaffen das" flüsterte er, drückte meine Hand so fest es ging.

Ich verlass dich nichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt