Kapitel 32 - Der Friedhofbesuch

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Am Friedhof angekommen, sah Kailyn zögernd die Grabsteine an. Er warf mir einen Blick zu, ich strich seinen Arm auf und ab, um ihn zu beruhigen. Nach einem tiefen Atmen ging er los, steuerte direkt auf den Grabstein seiner Mutter zu, dessen Platz er sich wohl zwei Jahre lang ganz genau gemerkt hatte.

Als wir direkt davorstanden, blieb ich ein Stück hinter ihm, um ihm seine Zeit zu lassen. Er schluckte hart, blieb wie vereist stehen. Der Wind umhüllte uns, es kam mir vor, als wäre es ein Zeichen dafür, dass Erica hier war.

Nach einer Weile, die er nur auf den eingravierten Namen gestarrt und tief geatmet hatte, griff er nach mir. Er zog mich an der Taille an sich, ich legte meine Hand auf seinen Arm und strich ihn wieder beruhigend runter.

Seine Augen waren mit Tränen gefüllt, er biss sich nervös auf der Lippe rum. Ich sah, dass er nachdachte, womöglich in Gedanken Worte an Erica richtete.

Kurz darauf schloss er die Augen, drückte mich enger an sich. Ich legte meine Arme um ihn, da ich sah, dass er seine Grenze erreicht hatte. Erleichtert vergrub er seinen Kopf in meinen Haaren, ich bemerkte, wie er zitterte.

„Sie wäre so stolz auf dich. Sieh nur, was aus dir geworden ist. Sie hätte genau das für dich gewollt." Flüsterte ich ihm ins Ohr, während ich seinen Nacken liebevoll kraulte. Er vergrub seine Finger in meinem Mantel, als müsste er sich an mir festhalten.

„Ich vermisse sie so sehr. Ich hätte herkommen sollen. Ich hätte sie nicht verdrängen dürfen" schluchzte er, ich spürte die Tränen auf die Haut an meinem Hals treffen.

„Du hast sie nicht verdrängt, sie war immer in deinem Hinterkopf. Du hast nur die Trauer verdrängt, die dich schwach gemacht hätte. Um sie zu trauern, hätte dich schwach gemacht, genau in der Zeit, in der du am stärksten sein musstest. Dass du nicht um sie getrauert, sondern deinen Weg gegangen und deinen Vater und Bruder kennengelernt hast, hätte sie stolz gemacht. Denn du hast das getan, was sie dir immer vorgezeigt hat. In die Zukunft sehen und weitermachen, auch wenn es einem nicht gut geht" flüsterte ich.

Ich erinnerte mich an Elles Grabrede. Kailyn hatte genau das getan, wovon Elle da gesprochen hatte. Erica wollte jedem beibringen, auf diese Weise zu leben. Keine Zeit mit Trauer verschwenden. Und genau das hatte er getan.

Er löste sich von mir, lächelte leicht. Ich legte meine Hände an seine Wangen und wischte ihm die Tränen vorsichtig aus den Augen. Noch einmal drehte er sich zu dem Grab, formte mit den Lippen ein Ich liebe dich, Mum und lächelte dann erleichtert. Seine Lippe zitterte und er sah mich ein wenig verloren an.

„Willst du gehen?" fragte ich leise. Er nickte, blickte auf den Boden. Ich verschränkte unsere Hände miteinander und küsste seine Wange leicht. „Danke, Baby" hauchte er und legte den Arm um mich, stützte sich so.

Wir gingen zum Parkplatz, wo wir uns auf einer Bank niederließen. Wir saßen dann stumm nebeneinander. Ich wusste nicht, ob er noch Zeit brauchte oder so schnell wie möglich wegwollte.

„Irgendwie vermisse ich Chicago. Ich meine, ich bin hier aufgewachsen. Die High School, die Jungs. Ich vermisse sogar Ryder manchmal. Und natürlich die ganzen Mädchen, Gott, wie ich die vermisse." Er wartete auf meine Reaktion und verhielt sich sein Lachen.

Ich sah ihn böse an, formte meine Augen zu Schlitzen. Ich fand es aber gut, dass es ihm so gut ging, dass er schon wieder Scherze machen konnte. „Ja, ich vermisse Justin auch ständig, wir hätten ihn besuchen sollen" meinte ich gespielt nachdenklich.

Er sah mich mit offenem Mund an, bis wir beide lachten. „Arschloch" murmelte ich und sah zu ihm rüber. „Komm her" meinte er grinsend und zog meinen Kopf vorsichtig zu sich. Unsere Lippen verschmolzen, ich strich genüsslich seinen Arm auf und ab.

Wir fuhren mit dem Taxi wieder zu meinem Dad, welcher uns fröhlich erwartete. „Melissa würde gern über Nacht bleiben, wenn das kein Problem für euch ist." Flüsterte er uns zu, während wir unsere Schuhe und Jacken auszogen. Ich sah ihn grinsend an.

„Kein Problem, aber ihr müsst leise sein" forderte ich mit hochgezogener Braue. „Sky" erschrak mein Dad und seine Wangen färbten sich rot. Kailyn neben mir lachte auf und klopfte meinem Dad auf die Schulter.

„Dylan, wir beide hatten in der High School schon genug davon, dich und Mum nachts zu hören. Du willst unser Trauma ja nicht noch vergrößern, oder?" Wir drei lachten auf, ich freute mich, dass Dad und Kailyn sich so locker verstanden.

Mit immer noch geröteten Wangen teilte Dad uns mit, dass er mit seiner neuen Freundin ins Kino gehen würde und sie erst spät zurück sein würden.

Sobald Melissa sich mit einer dreißigsekündigen Umarmung verabschiedet hatte, gingen die beiden und Kailyn und ich setzten uns auf die Couch.

„Sie ist ganz schön... körperlich" meinte ich mit einem Schmunzeln. Mein Freund nickte grinsend und hing ein „Ich werde bei ihr sogar schon eifersüchtig, mit diesen langen Umarmungen." Ich kuschelte mich lachend in seinen Arm und ließ ihn meine Schultern massieren, das tat er immer gern.

„Weißt du, was morgen für ein Tag ist?" murmelte er und küsste meine Stirn. Fragend sah ich ihn an. „Der zehnte. Das heißt, nur noch eine Woche bis zu Dads Geburtstag. Er hat mir gesagt, dass ich dich zur Feier mitnehmen soll, damit du ihn und seine Frau kennenlernst. Mace' Familie also irgendwie."

Als er meinte, dass der zehnte des Monats wäre, erschrak ich kurz. Doch ich verschob den Gedanken in meinen Hinterkopf und sah Kailyn überrascht an. „Ich soll sie alle kennenlernen?"

Er nickte sicher. „Natürlich, das ist jetzt meine Familie. Und du gehörst dazu." Mein Magen wurde warm und ich musste lächeln. „Wie sind sie eigentlich so?" fragte ich nach, um mich von dem Gedanken abzuhalten, der gerade wieder in meinen Kopf schlich. Der Zehnte. Sonntag.

„Naja, Dad hat sich nur ein bisschen verändert. Er lacht über jeden Blödsinn, macht schlechte Witze und kann aus jedem Satz, den man sagt, ein Gesprächsthema rausholen. Karen ist..." er stockte.

„Ich denke, sie ist seine große Liebe. Sie haben sich auf der High School kennengelernt. Sie waren nur ein paar Wochen zusammen, aber vorher schon einige Jahre befreundet gewesen. Mein Vater ist dann aufs College und sie wollte keine Fernbeziehung, also haben sie Schluss gemacht. Sie hat ein Monat später rausgefunden, dass sie schwanger war, aber hat ihm nichts gesagt. Und naja - Mace kennst du ja."

„Sind dein Dad und sie jetzt wieder ganz normal zusammen?" ich war ein wenig verwirrt. „Ja, er hat meine Mum damals sowieso nicht mehr geliebt. Du weißt ja, wie oft er sie betrogen hat. Kurz nachdem sie ihn rausgeschmissen hat, hat er den Brief von Karen bekommen. Sie hat ihn gebeten, ihr ein wenig beim Studiengeld für Mace zu helfen und seinen Sohn kennenzulernen. Dad ist sofort zu ihnen gefahren und schon nach einer Woche bei ihnen eingezogen. Er und Karen haben ein Jahr später wieder geheiratet und sind seitdem wirklich glücklich. Es war, als wären die achtzehn Jahre dazwischen nie passiert."

„Magst du Karen?" ich sah Kailyn genau an, damit er nicht lügen konnte.

„Naja... es hätte Mum wehgetan, zu wissen, dass sie irgendwie nur eine Lückenfüllerin für Dad war. Auch, wenn sie fünfzehn Jahre zusammen waren, er konnte sie am Ende ohne einen zweiten Blick für Karen verlassen. Aber sie als Mensch ist echt nett. Weißt du, es gibt Leute, die sind vom Charakter her einfach Mutter. Und Karen ist so eine." Ich musste schmunzeln, da mir auffiel, dass Kailyn begonnen hatte, die Leute um sich herum viel mehr zu beobachten, sie einzuschätzen.

„Denkst du, werden sie mich mögen?" fragte ich ein wenig unsicher. Es war neu für mich, die Eltern meines Freundes kennenzulernen. Erica hatte ja nie von uns erfahren und Isaacs Eltern hatte ich nie kennengelernt, da die sich nicht für ihren Sohn interessiert hatten.

Kailyn lachte auf mich herunter, strich über meine Stirn. „Natürlich, Baby. Du musst nicht nervös sein, ich hab ja schon viel von dir erzählt. Nur eben ohne Namen zu nennen."

Es wurde Abend, wir verbrachten die Zeit damit, Fotoalben meiner Kindheit anzusehen und uns darüber schlapp zu lachen, dass mein Vater damals noch lange Haare gehabt hatte. Seine Hippie-Phase hatte ich schon wieder ganz vergessen. Das waren noch Zeiten gewesen.

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Ich verlass dich nichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt