Kapitel 33 - Gedanken

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Irgendwann mussten Kailyn und ich eingeschlafen sein, da ich jetzt durch das Knarren des Fußbodens aufwachte.

Melissa und Dad schlichen sich durch den Flur, wobei Geflüster und immer wieder Melissas Gekicher zu hören war. Ich sah nur ihre Schatten im Licht der Straßenlaternen, doch erkannte auch so, dass mein Vater sie an den Hüften geschnappt hatte und in sein Zimmer trug. Ich musste schmunzeln, denn er schien wirklich glücklich.

Sobald die Zimmertür geschlossen wurde, stand ich leise auf, sodass Kailyn nicht aufwachte, und schlich in die Küche.

Wie auch schon in unserem alten Haus hatte Dad dort eine Kiste mit all seinen privaten Dingen versteckt. Sie stand im Schrank unter der Abwasch, versteckt hinter den Putzmitteln.

Ich holte die weißlackierte Schuhschachtel hervor, stellte sie am Tisch ab und setzte mich davor. Ja, das waren die privaten Dinge meines Vaters, doch ich hatte nicht vor, sie zu durchwühlen. Ich suchte nur nach einer Sache.

Also öffnete ich sie, durchkramte die Schlüsselanhänger und stieß endlich auf die vielen Fotos, die er dort aufhob. Es waren Fotos von unserer früheren Familie. Von Mum, Dad und mir.

Mein Vater hatte sie nach Mums Scheintod dort verstaut, damit sie ihn nicht immer erinnern würden und er damit abschließen konnte. Und ich hatte mir immer verboten, sie mir anzusehen.

Es waren Bilder aus meiner Kindheit, von Urlauben, Ausflügen, aber auch einfachen Abenden zu Hause. Ein paar Fotos waren auch von ihrem Grab dabei.

Als ich eine Fotografie von mir und meiner Mutter fand, auf der ich im Kinderwagen lag, erschauderte ich. Es hatte mir die ganzen vergangenen Wochen schon durch den Kopf gespukt, doch jetzt wurde der Gedanke ganz klar.

Würde mir das Kind meiner Mum ähnlich sehen? Würde sie es mehr lieben als mich? Würde dieser Brat ein guter Vater sein?

Nach allem, was passiert war, konnte ich meine Mutter nicht hassen. Ich hatte so getan, sie verdrängt, sie weggeschickt und sie nicht sehen wollen.

Doch wenn ich diese Bilder jetzt ansah und daran dachte, wie sie gewesen war, bevor ihr so viel zugestoßen war... sie war immer noch meine Mutter. Und sie sollte mich hassen. Ich war an allem schuld, was unserer Familie passiert war.

Plötzlich konnte ich es ihr nicht mehr übel nehmen, nicht mehr zurückgekommen zu sein. Sie musste Angst gehabt haben. Isaac musste sie so verängstigt haben, dass sie sich davor gefürchtet hatte, ihr altes Leben weiterzuführen.

Ich blickte wieder auf den Kalender an der Wand, der zehnte Oktober. Meine Fingern begannen zu zittern und ich biss mir auf die Lippe. Das konnte doch nicht sein.

Auf einmal machte sich eine Heidenangst in mir breit. Das... nein, das musste ein Fehler sein. Es konnte doch nicht... nein. Ich schloss die Augen und stellte die Gedanken, die sich in meinem Kopf überschlugen, auf stumm. Das konnte nicht sein und durfte nicht sein. Nicht nochmal.

Wenn es stimmen würde, was sich mein Kopf da zusammenreimte... dann würde ich Kailyn erneut verlieren. Und ich konnte ihn nicht schon wieder verlieren. Das Schicksal konnte uns nicht schonwieder Steine in den Weg legen.

Ich überlegte eine Weile und spielte mit dem Gedanken, meine Mutter tatsächlich zu besuchen. Ich wollte Brat kennenlernen und doch ein Teil im Leben meiner Halbschwester oder meines Halbbruders sein. Doch was hätte das für Konsequenzen?

Es war nicht so, dass ich keinen Kontakt zu meiner Mutter wollte, weil ich enttäuscht von ihr war. Es war, weil ich mich selbst nicht im Spiegel ansehen könnte, wenn sie wieder in meinem Leben wäre. Weil ich ständig daran erinnert werden würde, was ich getan hatte. Was sie und mein Dad wegen mir durchmachen hatten mussten.

Eine Träne rollte meine Wange herunter, als die Bilder, die ich jahrelang erfolgreich ausgeblendet hatte, wieder durch meinen Kopf schossen. Die Vergewaltigung, die Abtreibung. Schmerzen über Schmerzen, seelisch und körperlich.

Das Gefühl, sich nicht wehren zu können. Die Ungewissheit, was mit dem eigenen Körper passiert war. Das Gefühl, dreckig zu sein. Ein Baby umgebracht zu haben.

Dann die Entführung. Isaacs Anruf und die Falschaussage, dass meine Mutter in den Fluss gesprungen wäre. Dads Tränen und die Unwissenheit, wo meine Mutter sich befinde und wie es ihr ginge. Die Schuld, meinem Vater die Frau und meiner Mutter die Freiheit genommen zu haben.

Die Tränen rannen heiß über meine Wangen, ich konnte sie nicht stoppen. Ich schluchzte auf und wischte mir mit meinem Ärmel über das Gesicht.

Doch plötzlich hörte ich Schritte. Ich drehte mich abrupt um und sah Kailyn im Türrahmen stehen. Mit verschlafenen Augen nahm er die Situation in Augenschein. Sobald er mein verheultes Gesicht sah, kam er auf mich zu.

„Baby, was ist los?" flüsterte er und zog mich bestimmend in seine Arme. Er drückte meinen Kopf vorsichtig an seine Brust und kraulte mir durch die Haare, während der zweite Arm um meinen Rücken geschlungen war. Ich ließ meinen Gefühlen freien Lauf und schluchzte immer wieder auf, stellte mich all den Schmerzen, die ich so lange unterdrückt hatte.

Kailyn wiegte mich die ganze Zeit hin und her, bis ich mich halbwegs beruhigt hatte. Ich fühlte mich so taub von den ganzen Emotionen, als wäre mein Körper in einer Luftblase gefangen.

„Willst du darüber reden?" fragte er leise und drückte mir einen langen Kuss auf die Stirn. Ich schüttelte heftig den Kopf. Ich wusste, dass er verstehen würde, dass ich nicht wollte, dass alles noch mehr hochkäme.

„Okay." Er strich mir die Haare aus der Stirn und sah mir leicht lächelnd in die Augen. „Alles ist gut. Ich bin hier. Du bist nicht allein." Seine Worte beruhigten mich unwahrscheinlich.

Ich schloss die Augen und nahm seinen altbekannten Geruch in mich auf, was meine Schultern entspannen ließ. Es war doch alles nicht so schlimm, wenn Kailyn bei mir war.

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Der nächste Tag verlief ereignislos, Dad fuhr am Morgen auf den Friedhof, während Kailyn und ich entspannt frühstückten.

Der Gedanke des Vorabends wollte mir nicht aus dem Kopf gehen, es war mittlerweile der Elfte und nichts hatte sich verändert. Jedoch hielt ich mich selbst davon ab, mich in den Wahnsinn zu treiben und lenkte mich damit ab, Kailyn dabei zuzuhören, wie er sich über Elle und James amüsierte und mit meinem Dad Wetten abschloss, wie lange es dauern würde, bis die beiden sich verloben würden. Die totale Romantikerin, die ich nun mal war, plante gedanklich schon die Hochzeit und hoffte nur darauf, dass es bald so weit sein würde.

Es war Nachmittag geworden und wir waren soeben in New York gelandet. Kailyn hatte unsere Koffer in seinen Händen und hatte mir verboten, einen davon zu ziehen. Was für ein Gentleman. Mit einem leichten Grinsen sah ich ihm zu, wie er sie vor mir ins Taxi hievte und dann seine - unsere - Adresse angab.

Wir fuhren los, ein mulmiges Gefühl machte sich in meinem Magen breit. Was, wenn die ungemütliche Vorahnung, die ich seit einem Tag hatte, wahr war? Würde es Kailyn und mich wieder zerstören? Würde er mich wieder verlassen? Mein Magen drehte sich bei dem Gedanken und ich biss mir auf die Lippe.

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Hello wiedermal :)

Es tut mir wirklich leid, dass die Updates im Moment so lange dauern. Es sind zwar nur ein paar Leute, die meine Geschichte gerade aktiv mitlesen, aber ich möchte gerade für euch mehr schreiben.

Wie ihr hoffentlich mitbekommen habt, ist der nächste Plottwist schon unterwegs. Ihr konntet euch wahrscheinlich schon denken, was Sky solche Sorgen bereitet. :D

Bis bald! xx

Ich verlass dich nichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt