Familiengeschichten

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Selina nippte an ihrem Kakao und trommelte mit den Fingern auf dem Tisch herum.

Sie war nervös und aufgeregt, beides Dinge, die sie nicht sehr mochte.

Max schrieb in sein kleines Notizbuch, den Stift krampfhaft zwischen den Fingern.

Er schrieb schon etwas länger, eine gefühlte Ewigkeit.

Ein Teil von ihr fühlte sich schlecht, dass er die Schule schwänzte nur um ihr zu sagen, woher er ihren Namen kannte, doch ein anderer Teil, einer der sehr viel egoistischer und neugieriger war, wollte nur, dass er schneller schrieb.

Endlich sah er auf, die Augen rund und leuchtend. Er sah ein bisschen aus, als hätte er Speed genommen.

"Bist du fertig?", fragte sie ihn ungeduldig und nickte in die Richtung seines kleinen Buches.

Max nickte nur, doch er schien keine Anstalten zu machen, ihr das Geschriebene zu geben, also lehnte sie sich nach vorne und riss es aus seinen Händen.

Ohne weitere Umschweife fing sie an zu lesen.

Ich bin Max, mein Bruder heißt Alex. Unsere Mutter verließ uns vor zwei Jahren. Vor vier Jahren hatte sie einen Streit mit unserem Vater. Es ging um eine andere Frau, eine Vanessa, glaube ich. Er hatte eine Affäre die schon seit Jahren andauerte, noch vor meinem Bruder und mir. Es waren zwei Kinder daraus hervorgegangen, Selina und Mason. Mein Vater verließ sie eine Woche später und es wurde nie wieder darüber gesprochen. Es tut mir leid, dass wir nie nach dir und deinen Bruder gesucht haben, aber wir wollten unseren Vater nicht darauf ansprechen. Er war immer empfindlich bei diesem Thema. Ist er immer noch. Was tust du hier?

Auch als Selina zu ende gelesen hatte, sah sie weiter auf die Seite des Buches.

Fast dreiviertel des Textes war durchgestrichen, die Schrift fast unleserlich.

"Okay," sie holte tief Luft, legte das Buch auf den Tisch und ihre Fingerspitzen auf ihre Schläfen.

"Dein Vater hatte eine Affäre mit meiner Mutter, ich und mein Bruder entstanden, dein- Nein unser Vater hat uns verlassen und... Du- und Alex, ihr seid meine Halbbrüder?", fragte sie nach und hoffte, dass sie etwas falsch verstanden hatte.

Doch er nickte.

Er griff nach seinem Buch und schrieb wieder.

Ist dein Bruder auch hier? Mason?

Selina erstarrte, ihre Finger zuckten. Langsam schüttelte sie den Kopf.

"Er- Mason ist tot. Meine Mutter auch. Irgendwie lustig, wir dachten immer, er hätte uns für eine andere Familie verlassen, aber wir waren die andere Familie."

Sie schnaubte und trank einen Schluck um seinem Blick auszuweichen, aber Max' blaue Augen sahen sie weiter mitleidig an.

Er blätterte in seinem Buch und hielt ihr eine Seite vor.

Mein Beileid.

Die Schrift war schön, ordentlich.

Selina nickte.

"Soll ich es ihm sagen oder willst Du?"

Max sah sie verständnislos an und zog eine Augenbraue fragend hoch.

" Unserem Vater. Ich meine, er ist ein Arschloch, aber sein Erstgeborener ist tot. Das sollte er wissen."

Noch während sie sprach schüttelte Max den Kopf. Er zeigte ihr sein Buch, zeigte ihr das, was er am Anfang ihrer Unterhaltung geschrieben hatte.

Seine Finger tippten auf einen Satz.

Er war immer empfindlich bei diesem Thema. Ich er immer noch.

Selina sah ihn an.

"Es ist mir scheiß egal ob er empfindlich ist oder nicht. Er hat uns verlassen. Es wäre mir eine Ehre ein paar seiner empfindlichen Stellen zu treffen."

Selina stand auf um zu gehen, doch er packte ihren Arm.

Seine Augen sahen panisch aus, und sie hielt inne.

Max fummelte an seinem Handy und zeigte ihr ein Bild.

Es war Alex, schlafend.

Er lag auf einem Handtuch, Oberkörper entblößt.

Blutergüsse rankten sich wie Efeu über seine Brust, von rötlich zu fast schwarz.

Während sie wie erstarrt das Bild ansah ließ Max ihren Arm los und fing wieder an zu schreiben.

Bitte mach ihn nicht wütend.

some die looking for a hand to holdWo Geschichten leben. Entdecke jetzt