Ein bisschen Unfairness

67 11 0
                                    

Der erste Schnee fiel aus weißen Wolken und die Tage vergingen. Sie redeten nicht viel miteinander, und auch nicht mit anderen. 

Wenn sie sich sahen standen sie schweigend nebeneinander, eingemummt in dicken Jacken und Mützen wie Krähen, die auf einem Hausdach sitzen in ihrem dichten Federgewand. 

Seit dem Vorfall waren sie leiser und ihnen war kälter. 

Max hatte nahezu jede Nacht Albträume, aus denen er nach Luft schnappend und zitternd aufwachte. 

Alex fing an zu boxen, Schorf überzog nun ständig seine Knöchel und bezeugte, dass er keine Handschuhe benutzte.

 Isaac saß of draußen in den Parks und starrte in die Luft, selbst, wenn die Kälte seine Lippen in Wüsten verwandelte. 

Selina hatte Panikattacken, die sie wie alte Freunde immer wieder besuchten, in der Hoffnung, ihre Freundschaft wieder auffrischen zu können. 

Als Lilli ihre Tage hatte und blutige Laken in Salz und Wasser legte, kotzte sie, und sie wusch ihre Hände bis ihre Handflächen bluteten. 

Nach zwei Wochen kam es in den Nachrichten. Eine Leiche wurde gefunden in einer verlassenen Fabrik außerhalb der Stadt. Man ging von Mord aus. 

Es war nicht wie in all den Filmen, Büchern und Serien. 

Kaum jemand redete über den Toten, die Menschen waren zu abgehärtet. Niemand vermisste irgendwen, und es gab keine Infos. 

Nur die gelangweiltesten Mitglieder der Gesellschaft redeten über den Mord. Die Fußballmütter, die hinter davorgehaltener Hand über die Nachrichten sprachen, um ihre Söhne nicht zu erschrecken. 

Die Polizei identifizierte den Mann nach mehreren Tagen. 

Thomas Leven, 21. Obdachlos. Er war der Polizei anscheinend schon bekannt gewesen. 

Ein paar redeten über ihn. 

Es hieß, er wäre Alkoholiker, Verschwörungstheoretiker, verrückt. Niemand scherte sich um ihn, als er noch lebte, und niemand scherte sich um seinen Tod. 

"Es ist nicht so spektakulär wie ich erwartet habe," murmelte Lilli und zog ihre Knie enger an ihren Körper. 

Max hockte neben ihr, zusammen auf seinem Bett, den Rücken an die Wand gelehnte. Er hatte gelesen, aber ihre Worte ließen ihn mit gerunzelter Stirn aufgucken. 

"Tu das nicht, du kriegst sonst Falten," flüsterte das Mädchen und strich mit dem Daumen seine Stirn herunter. 

Aus Reflex schloss der Dunkelhaarige seine Augen und als er sie wieder öffnete wirkte er viel entspannter. 

"Ich dachte, man würde uns befragen du so, aber niemand kommt," erklärte sie und lehnte sich gegen seine Schulter. 

"W-W-Warum sol-lte man. W-Wir sind n-n-nur Schü-üler," erwiderte er. 

Sein Stottern wurde besser, trotz alledem, oder vielleicht gerade deswegen. Er verbrachte mehr Zeit mit Lilli, Isaac und Selina. 

Mehr Zeit mit Menschen, die ihn nicht mit einem Blick lesen konnten wie sein Bruder. Er war gezwungen mehr zu reden, und er vertraute den vier mehr als jedem anderen in seinem Leben.

 Was nicht verwunderlich war, sein Leben lag in jedem Sinne des Wortes in ihren Händen, und ihre Zukunft war unweigerlich mit seiner verbunden. 

"Ich weiß. Wir haben keinerlei Verbindung zu ihm, aber trotzdem. Ich war mir sicher, das wir irgendetwas vergessen hatten, und dass wie alle ins Gefängnis gehen werden. Es ist... Es ist irgendwie nicht fair. Wir sind Mörder, wir alle. Aber es wird vermutlich nie jemand das alles wissen. Das scheint nicht fair." Sie seufzte und strich sich eine Strähne hinter das Ohr. 

Max sah sie von der Seite an. 

Blasse Haut, die Augen wirkten beinahe durchsichtig von seinem Winkel. 

Eine Woge von Ehrfurcht vor Lilli und Mut durchschossen ihn. Mit sicheren Fingern legte er sein Buch zur Seite und drehte ihr Gesicht sanft dem seinem zu. 

Er küsste sie auf die Lippen, nur eine kurze Berührung, und dann war wieder Luft zwischen ihren Mündern. 

Ihre Augen waren aufgerissen, die Augen so blau wie der Himmel im Sommer. 

"W-Wir hab-ben ein biss-sschen un-unfairn-ness ver-verdient, o-o-oder nicht?" Lillis Augen wurden feucht, und sie wirkte so viel älter als sie eigentlich war, sie beide wirkten so. Sie alle wirkten so. 

Aber sie nickte, lehnte sich vor und küsste ihn erneut, eine Mischung aus Tränen und trockenen Lippen.

some die looking for a hand to holdWo Geschichten leben. Entdecke jetzt