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Kylies Sicht

„Lieber Finn,

es tut mir unglaublich Leid, dass ich dir nicht vorher bescheid gesagt habe, aber ich hatte es wirklich vor, glaub mir. Mein Herz schmerzt, wenn ich daran denke, wie weh ich dir damit getan habe. Und noch viel mehr, weil ich weiß, dass du noch viel mehr Schmerzen wegen mir haben wirst.

Ich wollte es dir sagen. Ich wollte dir sagen, dass ich nach Minnesota gehe, aber dann waren wir beide so glücklich und ich konnte diese Stimmung einfach nicht zerstören, weil ich selten so ein lebendiges glitzern in deinen Augen gesehen habe, wie während unserer Zeit in Kanada.

Aber ich musste gehen. Es ist eine einmalige Gelegenheit für mich, und ich will meine Chance nutzen. Mein Leben könnte sich dadurch so sehr verändern und vielleicht bekomme ich ja dadurch irgendwann einmal einen richtigen Job.

Finn, ich möchte nicht, dass wir uns weiterhin sehen, schreiben oder auf sonst eine Weise Kontakt haben. Das ist nicht nur schwer für dich, sondern auch für mich, weil ich dich verdammt nochmal in mein Herz geschlossen habe und dich am liebsten nie wieder gehenlassen würde.

Trotzdem habe ich Angst, dass ich es genauso versaue wie die letzten Male und bei dir ist es einfach etwas anderes, weil ich weiß wie es um deinen geistigen Zustand steht. Ich tue dir weh, um dir nicht zu einem späteren Zeitpunkt noch mehr weh zu tun.

Ich liebe dich auch Finn. Sehr sogar. Und ich hätte dich gerne in meiner kleinen Familie gehabt, aber ich kann es nicht verantworten, dich mit meinen Problemen, Sorgen und Ängsten zu belasten. Das wäre nicht nur selbstsüchtig, sondern auch unfair.

Du musst dich auf dich selbst konzentrieren, damit du wieder gesund wirst. Damit du irgendwann ein normales Leben führen kannst. Ohne Depressionen, ohne Magersucht (die du, auch wenn du es vehement bestreitest, auf jeden Fall hast!) und auch ohne mich.

Weil ich dir vielleicht für ein paar Minuten das Gefühl geben kann, alles wäre gut, aber ich kann dir nicht helfen mit deinen Problemen klarzukommen. Und jeden Moment den ich mit dir zusammen bin zerbricht es mir ein Stück weiter das Herz, deine traurigen Augen sehen zu müssen und zu wissen, dass ich nichts dagegen tun kann.

Ich kann nichts tun, damit du dich besser fühlst. Aber genau das wäre meine Funktion als Freund. Und ich fürchte, es ist mir unmöglich das zu tun. Um jemandem anderen zu helfen muss man erst einmal sich selbst helfen können und das kann ich nicht.

Weil ich auch nur ein kleiner, zerbrochener Junge bin, der sich in den meisten Momenten seines Lebens nichts mehr wünscht als den Tod. Der diese Welt hasst und sie am liebsten verlassen würde.

Nur das ich das nicht kann. Ich habe Chloe und Ryan und nur für sie alleine halte ich dieses Leben aus. Denn ich weiß wie es ist, ohne Vater aufzuwachsen, und das will ich ihnen nicht antun. Und vor allem nicht das Wissen, dass ihr Vater sich umgebracht hat. Zwar kann ich mir gar nicht vorstellen, wie es sein muss, wenn man mit so etwas großwerden muss, aber ich will nicht, dass sie es herausfinden müssen.

Ich bin schlechter Einfluss für dich und da es dir sowieso schon nicht gut geht, möchte ich nicht, dass es durch mich noch schlimmer wird. Wie gesagt, ich kann gar nicht ausdrücken, wie leid es mir tut, dich so alleine zu lassen, aber es ist zu unser beider Wohl.

Bis zu einem gewissen Grad ist das alles hier verdammt Selbstsüchtig. Natürlich möchte ich bemitleidet werden. Für mein Leben, für meine Gefühle und alles, was mir passiert ist. Ich möchte das du das hier ließt und dir denkst, es wäre kein Wunder das es mir so schlecht geht.

Andererseits ist es für dich. Finn, ich kann besser schreiben als sprechen. Müsste ich dir das alles per Mund mitteilen würde es nur eine Aneinanderreihung von Stottern und Ähms werden. Aber so kann ich dir meine wahren Gefühle mitteilen, ohne meinen Mund benutzen zu müssen.

Das einzige das ich dir umbedingt noch sagen wollte, bevor ich gehe, war das hier:

Finn, du bist wunderschön. Ich versteh nicht, wie ein so wundervoller Mensch wie du überhaupt auf die Idee gekommen ist, er wäre hässlich und nicht wert zu leben. Wie du auf den Gedanken gekommen bist, nicht mehr zu essen, um abzunehmen, denn du hast es definitiv nicht nötig. Du bist der schönste Junge, den ich jemals kennenlernen durfte und du wirst es auch immer bleiben.

Finn, ich liebe dich. Ich liebe die Art wie du redest. Wie du lachst, dich bewegst, wie du gehst und wie du dich verhältst. Ich liebe es, wie du dich um Chloe und Ryan kümmern kannst. Ich liebe es, wie warm dein Körper neben mir im Bett ist. Ich liebe es, lange mit dir zu kuscheln und mit dir über alles reden zu können. Ich liebe dich Finn.

Finn, ich wollte ich könnte dich beschützen. Dich beschützen vor deinen Gedanken, die dich so zerfressen und dir das Leben zu Hölle machen. Beschützen vor deinen Klassenkameraden, die immer so gemein zu dir sind. Beschützen vor der großen, bösen Welt, die kein anderes Ziel hat, als dich zu brechen. Aber ich kann es nicht.

Bitte, sei nicht zu traurig darüber, dass ich gehe. Wir werden uns wiedersehen. Und dann bin ich vielleicht auch erwachsen genug, um das alles für dich sein zu können. Ein Freund, ein Liebhaber, ein richtiger Mann, ein Kuschelkissen, ein Beschützer und schlussendlich auch der Mensch, der dir die Sicherheit gibt, die du so sehr brauchst.

Aber warte bitte nicht auf mich. Lern neue Leute kennen, Leute die keine so schlechten Menschen sind wie Sebastian und ich. Leute die dich wertschätzen und bei denen du dich wohlfühlst. Und verlieb dich wieder, bitte verlieb dich wieder! In einen Mann, der dir alles bieten kann, der alles für dich sein kann, was ich nicht konnte.

Vergiss einfach nicht das ich dich liebe, Ok? Es wird immer einen Menschen auf dieser Wert geben, der dich liebt, und sei es nur der Typ, den du mit vierzehn einmal für ein paar Monate richtig gut gekannt hast. Du wirst geliebt und geschätzt, du wirst gebraucht. Denk immer daran, wenn es dir wieder schlecht geht.

In Liebe,

dein Kylie.

Behutsam tupfte ich eine der Tränen weg, die den Weg von meiner Wange auf das Blatt gefunden hatten. Zum Glück war die Schrift nicht verwischt, sonst würde ich noch einmal von neuem anfangen. Finn hatte Perfektion verdient. behutsam faltete ich das Blatt und verstaute es in dem Briefumschlag, den ich schon vorbereitet hatte.

Diesen wiederum legte ich in den Karton, den ich meinem Nachbarn geben wollte, damit Finn ihn erhielt. Darin befanden sich auch noch ein Pulli von mir, als Entschädigung für den, den ich in meine Sachen gepackt hatte, und zwei Geburtstagsgeschenke. Es war unmenschlich von mir, Finn so kurz vor seinem fünfzehnten Geburtstag alleine zu lassen, aber ich konnte nicht hierbleiben.

Das letzte Mal ging ich durch die komplett leeren Räume meiner alten Wohnung und erinnerte mich an alles, was hier drin passiert war. Ich hatte sehr viel Sex, und noch mehr Streit in diesen Räumen. Ich hatte so oft für irgendwen, aber am meisten für Finn gekocht. Vielleicht hätte ich ihm auch das noch schreiben sollen. Das ich gerne noch viel mehr für ihn gekocht hätte. 

Wanted to be lovedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt