Sebastian schaut mich entsetzt an. „Unser Heiligtum ist geschändet worden!" Ich sehe ihn erwartungsvoll an. Yggdrassil ist der Weltenbaum. Da wo ich herkomme ist sozusagen der Übergang des Stamms (Erde) zur Wurzel (Unterwelt). Außerdem kann man in die Krone schauen, nach Asgard. Dort wohnen die Götter. Die Geschichten der Götter sind in die Rinde des Baums geschnitten, damit jeder sie lesen kann. Doch nun ist ein Teil der Rinde herausgeschnitten und entwendet worden. Ausgerechnet Balders Segen ist weg! Wer klaut denn Bitteschön den Segen eines toten Gottes?" Sebastian wirkt ratlos und verzweifelt. „Lass uns so schnell wie möglich nach Kairo zum Flughafen gehen. Wir bekommen bestimmt einen Flug nach Tromsö." schlage ich vor damit wir nicht mitten auf der Straße Wurzeln schlagen. Ich weiß ja dass die Baw Hemet überall lauern können. Wir springen in den nächsten Bus und fahren in unsere Hauptstadt. Als wir am Flughafen unsere Tickets gekauft haben und endlich im Flugzeug sitzen fällt mir eine unendliche Last von den Schultern. Ich seufze erleichtert. Sebastian schaut mich verwundert an und ich sage ihm zaghaft dass ich froh bin mein Land zu verlassen. Ich glaube nämlich nicht dass mir meine Häscher bis in ein fernes Land folgen werden. Sebastian lächelt mir beruhigend zu und legt seinen Arm um mich. Sofort fühle ich mich wohlig geborgen und ich lehne mich an seine Brust. „Sebastian, du sagtest dass der Gott tot sei dessen Segen entwendet wurde. Wie kann ein Gott tot sein?" frage ich verwundert. Sebastian seufzt. „Das ist kompliziert." sagt er mit seiner dunklen und rauen Stimme. „Balder ist der schönste und sanftmütigste aller Götter. Sein Antlitz ist gut und warm. Er ist zu allen Kreaturen nett und er wurde von vielen verehrt. Doch eines Nachts hat er geträumt dass er sterben wird. Seine Mutter ist daraufhin zu allen Menschen, Tieren und Pflanzen und sogar zu den Steinen und Metallen gegangen und hat jedem den Eid abgenommen dass sie ihrem Sohn nicht schaden werden. Gerne haben die Lebewesen und Dinge den Eid abgelegt weil alles unter der Sonne Balder liebt. Nur dem kleinen Mistelzweig hat Balders Mutter keinen Eid abgenommen weil er noch viel zu jung und unschuldig war. Balder war daraufhin unbesiegbar. Da er immer noch lieb und sanftmütig war und gerne mit seinen Geschwistern gespielt hat erlaubte er ihnen ihn als Zielscheibe für Ihre Waffenübungen zu nutzen. Balder konnte getroffen, aber nicht verwundet werden. Doch in Asgard lebt der Verräter Loki. Er hat dem blinden Hägur einen Pfeil aus dem Mistelzweig gegeben. Hägur hat seinen geliebten Zwillingsbruder damit erschossen. Die Bestürzung war bei allen Lebewesen riesig groß und während der Bestattung ist Balders Frau Nanna an gebrochenem Herzen gestorben. Gemeinsam sind die beiden mit dem Schiff in das Reich der Toten gefahren. Natürlich haben Balders Eltern alles versucht ihn aus der Unterwelt Hel zurück zu holen. Hel hat zugesagt dass Balder und Nanni ziehen dürfen wenn die gesamte Schöpfung um Balder weint. Balders Mutter ist wieder zu jedem Gott, jedem Mensch, jedem Tier und allen Dingen gegangen. Dieses Mal sogar zur Mistel. Sie weint am lautesten um Balder. Nur Loki weint nicht und darum kann Balder nicht zurück und ist tot." Wow! Was für eine Geschichte! Denke ich. „Und du sagst Balder ist ein lieblicher Gott?" frage ich Sebastian. Der nickt. „Balder ist der Sonnengott, Nanna, seine Frau ist die Mondgöttin." Hmm, komisch. Ra ist ja ebenfalls der Sonnengott. Denke ich und muss die Stirn runzeln. „Was ist Liebes?" fragt Sebastian als ich so nachdenklich die Wolken betrachte. „Wahrscheinlich ist es nichts aber das Buch das verschwunden ist ist von Ra und Ra ist unser Sonnengott. Ich weiß nicht ob da ein Zusammenhang besteht." Ich schaue Sebastian an und auch er schaut auf einmal sehr nachdenklich aus.
Es gibt keinen Direktflug Kairo Tromsö und darum fliegen wir über Madrid. In Madrid treffen wir Sebastians Eltern. Sie sind aus Kanada angereist um dem Großvater zu unterstützen. Die Begrüßung ist recht herzlich. Aber als Sebastian mich als seine Freundin vorstellt werden die Gesichter seiner Eltern steif. „Kind! Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?" fragt seine Mutter entsetzt. „Sie ist keine von uns!" Sebastian rollt genervt die Augen. „Nein, ist sie nicht Mama. Aber sie ist ebenfalls eine Wächterin über göttliches Wissen und auch sie kann ihre Gestalt wandeln." Sebastians Mutter mustert mich nun etwas netter. „Ach, aus welchem Land stammen sie denn?" fragt sie mich interessiert. „Aus Ägypten." antworte ich möglichst höflich. „Aber gibt es in Ägypten denn Wölfe?" fragt Sebastians Mutter erstaunt. „Nein." gebe ich wahrheitsgemäß zu. „Ich bin eine..." „KATZE! Oh Gott nein! Sag dass das nicht wahr ist!" Sebastians Vater schnappt sich seinen Sohn und schüttelt ihn durch. Aufgebracht stelle ich mich vor diesen schrecklichen Kerl. „Lassen sie sofort Sebastian los! Ja ich bin eine Katze! Ja und? Was ist so schlimm daran dass ich bin was ich bin?" Sebastians Vater schaut mich an als wäre ich was Ekelhaftes. „Wir wollen keine Katze in der Familie! Das ist ekelhaft! Jeder weiß dass Katzen nicht treu sein können." Sebastian schaut seinen Vater wütend an. „Sag mal spinnst du?" knurrt er ihn an. Ich fauche: „Wir werden dafür gerühmt treu bis in den Tod zu sein." Sebastian löst sich aus dem Klammergriff seines Vaters und legt beide Arme um mich. „Ihr könnt es entweder akzeptieren dass jetzt eine Katze in unserer Familie ist oder ich bin nicht mehr in eurer Familie. Das entscheidet ihr. Ich habe mich dafür entschieden Netjeret zu lieben." Sebastian funkelt seine Eltern böse an und die schauen genau so wütend zurück. „Das entscheidet Großvater!" knurrt Sebastians Vater drohend und ich merke wie Sebastian ein bisschen zusammen zuckt. Ich denke mal er hat ordentlich Respekt vor dem alten Alpha. Damit scheint das Kriegsbeil erst einmal begraben zu sein. Sebastians Mama plaudert nun warmherzig mit ihrem Sohn und will alles über sein Studium wissen. Sie schaut ihn stolz an als er erzählt dass er sein Examen bestanden hat und sich um eine Stelle als Dozent bemüht. Es stehen mehrere Universitäten zur Auswahl, bisher hat er noch keine Rückmeldung erhalten. Ich sitze neben ihm und bekomme plötzlich ganz doll Lust bei ihm zu studieren. Wenn er erzählt dann wird Geschichte lebendig.
Bei unserem nächsten Flug von Madrid nach Oslo unterhalten sich Sebastian und seine Eltern weiter ganz normal als wäre nichts. Ich werde ein bisschen traurig denn sie behandeln mich als wäre ich nicht da. Sie schauen mich nicht an, sprechen nicht mit mir und beachten mich nicht. Ich befürchte dass sie mich ignorieren sollte ich den Mund aufmachen. Darum halte ich meine Klappe. Ich rolle mich in meinem Sitz zusammen und versuche die Augen zu schließen. In Oslo treffen wir auf noch mehr Verwandte von Sebastian. Sie reagieren alle exakt wie Sebastians Eltern: sie mögen mich nicht, finden mich ekelhaft und überlassen es dem Großvater über mein Schicksal zu entscheiden. Mir wird ein bisschen bang ums Herz. Sebastian wirkt ausgelassen und freut sich offensichtlich inmitten seiner Familie zu sein. Ich dagegen hasse meine Familie. Wir haben eine gemeinsame Aufgabe und die hält uns zusammen. Sonst nichts. Mit dieser Familie verbindet mich nichts, außer dass ich einen der Ihren liebe. Doch wenn ich Sebastian aus seiner Familie reiße wird er nie wieder so ausgelassen mit Ihnen plaudern können. Ich hätte in Madrid noch gehofft dass Sebastian an meiner Seite bleibt. Inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher ob das ein netter Wunsch ist. Es wäre egoistisch von mir von Sebastian zu verlangen dass er seine Familie für mich verlässt.