Nachdenklich gehe ich mit Sebastian zurück ins Hotel. Die Weihnachtspredigt hat mir sehr zu denken gegeben. Sebastian teilt meine Skepsis. „Die Theorie dieser Religion und die Praxis trennen Welten." sagt er. „Es ist so ein liebevoller und gütiger Gott. Wenn du das irdische Leben dieses Gottes Dir anschaust dann stirbt er am Ende für die Sünden seiner Schöpfung. Sie leben in dem Wissen dass ihr Gott ihnen alles vergibt weil er sie unendlich liebt. Und sie vergeben selbst so selten." Sebastian schüttelt traurig seinen Kopf. „Sie bekommen alles geschenkt und geben selbst so wenig." „Wie kann das sein?" frage ich verwirrt. Sebastian schaut mich nachdenklich an. „Es ist Blendwerk. Bestimmt ist es Blendwerk. Es klingt so wunderschön was sie sagen." Ich denke über Sebastians Worte nach. Wen wollen sie denn blenden? Ich meine, es ist doch mehr als offensichtlich dass sie nicht danach leben was sie glauben!" Sebastian lächelt und sagt dann: „Sich selber. Sie blenden sich selber." „Aber warum?" frage ich. „Es ist doch völlig bescheuert sich selbst zu belügen. Es wäre doch viel ehrlicher zu sagen: Mein Gott ist der Größte und macht alle anderen platt und das legitimiert mich ebenfalls alle anderen platt zu machen!" Sebastian schaut mich genauso verwundert an wie ich ihn. Wir wissen es nicht!
Sebastian und ich fliegen am nächsten Tag nach New York. Ich bin heimlich aufgeregt Sebastians Studentenbude kennen zu lernen. Ich frage mich ja ob er eher aufgeräumt oder eher der unordentliche Typ ist. Ich selber bin gut durchorganisiert, was aber bei genau zehn persönlichen Gegenständen keine hohe Kunst ist. Sebastians Wohnung ist überwältigend! Er besitzt so viel Zeugs. Er hat auch beeindruckend viele Bücher. Es scheint auf den ersten Blick alles sehr chaotisch, auf den zweiten Blick erkenne ich seine Ordnung. Sebastian hat zwar eine vollgestopfte Wohnung aber sie ist sauber. Als wir die Wohnung betreten haben hat er seine Post mit rein geholt. Nun sitzt er auf seinem Schreibtisch und sortiert die Briefe. Die meisten sind Reklamebriefe und die wirft er sofort weg. Aber ein Brief ist von einer Universität bei der er sich beworben hat. Sebastian öffnet den Umschlag und dann fangen seine Augen an zu glänzen. Die Universität von Mystery Spell bietet ihm einen Lehrstuhl an.
Er kann dort ‚Mythen und Legenden' unterrichten. Er soll Seminare, Vorlesungen und Übungen anbieten die sowohl für Erstsemester als auch für Examenskandidaten relevant sind. Er darf gleich zu Beginn die ganze Bandbreite unterrichten. Sebastian strahlt und fragt mich: „Hast du Lust mitzukommen?" Ich gratuliere ihm erst einmal ganz herzlich und dann sage ich ihm dass ich selbstverständlich gerne mit ihm mitgehen will. Ich würde mich zu gerne als Studentin dort einschreiben und Sebastian hilft mir alle meine Unterlagen zusammen zu suchen, Bewerbung und Lebenslauf zu erstellen und an die Uni zu schicken. Ich erhalte nach Weihnachten meine Bestätigung dass ich mich dort immatrikulieren darf. Sebastian und ich jubeln! Aufgeregt fahren wir nach Mystery Spell um uns in der Universität zu melden. Sebastian als Dozent, ich als Studentin. Der Dekan ist sehr nett zu uns. Er sagt dass er sich freut uns als Paar begrüßen zu dürfen. Gleichzeitig bittet er uns dass wir uns auf dem Campus diskret verhalten weil ein Miteinander zwischen Lehrkörper und Studenten nicht gerne gesehen ist. Wir bekommen eine kleine Wohnung auf dem Campus zugewiesen. Es ist eigentlich nur eine Übergangswohnung bis wir etwas eigenes gefunden hätten. Doch der Dekan deutet an dass einige Kollegen schon jahrelang in so einer Wohnung leben da sie sehr preiswert sind und die meisten Dozenten und Professoren eh in ganz anderen Städten ihr zu Hause haben.
Wir schauen uns die neue Wohnung an und die ist klein aber fein. Ein Schlafzimmer mit angrenzendem Badezimmer, und eine Wohnküche sind bereits eingerichtet. Wir brauchen keine eigenen Möbel mehr kaufen wenn wir nicht wollen. Sebastian schaut sich genau so interessiert um wie ich. Es ist wirklich eine süße kleine Wohnung. Ich fühle mich jetzt schon wohl. Im Schlafzimmer probieren wir gleich das Bett aus. Es ist wunderbar weich und sehr stabil. Da könnte man drauf rumhopsen und es würde nicht kaputt gehen. Wir weihen es gleich einmal ein und testen die Stabilität.
Danach gehen wir einkaufen und genießen das schöne Wetter. Mystery Spell ist eine entzückende kleine Stadt. Sie scheint recht alt zu sein und man sieht recht viele Ureinwohner. Sebastian und ich lassen uns in einem kleinen Café die Sonne auf die Nase scheinen und zum Mittagessen gehen wir in ein Fast Food Restaurant. Wir planen den Umzug so dass wir das Sylversterfest noch in New York verbringen. Wir feiern mit Sebastians Freunden aus der Uni. Die meisten studieren noch aber einige sind schon fertig mit dem Examen. Sebastian ist nicht der einzige der schon einen Job hat. Sebastians Freund aus Kindertagen wird wohl in einem Museum in New York als Kurator arbeiten aber die meisten anderen suchen noch. Archäologen werden leider nicht wirklich gesucht. Ein Cousin von Sebastian der ebenfalls sein Examen bestanden hat wird Ingenieur. Er hat unter anderem in Mystery Spell eine Stelle in Aussicht. Er überlegt nun ernsthaft diese Stelle anzunehmen weil er sich dann öfters mit seinem Cousin treffen kann und dann nicht so alleine in einer fremden Stadt ist. Sebastian findet die Idee durchaus sehr gut und als er dann auch noch erfährt dass das Ingenieursbüro nicht weit weg vom Campus ist schmieden die beiden schon fast Pläne zusammenzuziehen. Ich bin nicht wirklich begeistert dass ich mit zwei Männern zusammenleben soll. Aber ich will erst einen anderen Werwolf fragen ob es vielleicht unter den Wölfen üblich ist dass man zusammen wohnt. Die Familie scheint eng aufeinander hängen gewohnt zu sein.
Wir feiern das neue Jahr bis in die frühen Morgenstunden und fallen dann müde ins Bett. Unsere Koffer sind schon für den Umzug gepackt. Sebastian schläft lange am nächsten morgen. Ich kann nicht schlafen weil mir sein Cousin und die Pläne dass Sebastian und er zusammenziehen wollen so sehr im Kopf herumspuken. Ich schnappe mir mein Handy, Sebastians Wohnungsschlüssel und etwas Geld damit ich Brötchen kaufen gehen kann. Unterwegs setze ich mich auf eine Mauer und rufe Sebastians Opa an. Er geht verschlafen ans Telefon. Als ich mich melde muss ich blöderweise schluchzen. Meine ganze Angst bricht plötzlich über mir zusammen. Die Angst davor mit Sebastian zusammenzuleben, die Angst das weit weg von meinem Volk zu tun, die Angst vor Sebastians Gefühlen und dass ich ihn enttäuschen könnte. Ich heule also Fenrir so voll dass er drauf und dran ist sich ins Flugzeug zu setzen um Sebastian den Hintern zu versohlen. Ich schreie panisch: „Stopp, Fenrir! Sebastian hat damit doch gar nichts zu tun! Ich bin das Problem! Ich habe einfach Angst! Ich fühle mich allein und habe meine Familie verlassen. Ich habe keine Mama mehr die ich um Rat fragen kann und darum rufe ich dich an weil du erwachsen bist und ich brauche einfach jemanden dem ich meinen Kummer anvertrauen kann." Ich habe so schnell gesprochen dass ich glaube Fenrir hat nur die Hälfte verstanden. Aber Fenrir sagt ganz lieb: „Netjeret, Liebling, schieß los. Wovor hast du Angst?" Ich erkläre ihm dass ich es befremdlich finde dass Sebastian mit seinem Cousin zusammenziehen möchte. Fenrir antwortet wie ich es mir gedacht habe. Dass sich Werwölfe am wohlsten in Gesellschaft fühlen und je mehr andere Wölfe um sie herum sind desto besser. Ich weine weil ich dann nicht weiß wo ich bleiben soll. „Wenn du dich nicht wohl damit fühlst rede mit Sebastian. Er wird es bestimmt verstehen und ihr findet eine Lösung." Ich verspreche Fenrir mit Sebastian zu reden. Ich bin zumindest beruhigt dass es normal ist und nicht weil Sebastian keine Lust hat mit mir alleine zu sein.
Ich plaudere noch eine ganze Weile mit Fenrir und dann legen wir auf damit ich Brötchen kaufen kann und mal wider zu Sebastian zurück kehren kann. Als ich in die Wohnung komme schläft Sebastian noch friedlich. Er sieht so schön aus. Richtig glücklich, zufrieden und entspannt. Ich schäme mich für meinen Gefühlsausbruch und bin froh das alles bei Fenrir abgeladen zu haben. Ich sollte mich mit Sebastian freuen dass er einen anderen Wolf gefunden hat anstatt zu weinen. Ich schäme mich jetzt dass ich so selbstsüchtig gedacht habe.