Schlaflos

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POV Raphael:

Ich sitze im Hotelzimmer. Im Aufenthaltsbereich. Alle anderen liegen schlafend in ihren Betten. Es ist mittlerweile hier 4 Uhr morgens. Der Jetleg hat uns alle fest im Griff. Aber ich kann im Gegensatz zu allen anderen noch immer nicht schlafen. Lou hat umwerfend ausgesehen in diesem Kleid. Umwerfend. Am liebsten hätte ich sie in irgendeine Besenkammer gezogen und sie nach allen Regeln der Kunst genommen. Aber ich kann es nicht. Ich darf es nicht. Je mehr ich sie an mich heran lasse, desto schwieriger ist es für sie mich loszulassen. Ich bin mir immer noch nicht sicher ob ich bereit dazu bin. Bereit mich auf sie einzulassen. Bereit für eine neue Beziehung. Es ist lange her und trotzdem noch zu frisch. Meine Gedanken rasen, mein Schädel dröhnt. Leise schlüpfe ich in meine Schuhe und verlasse das Zimmer. Ich brauche Luft. Frische Luft. Wobei in Tokyo die Luft gar nicht so frisch ist. Egal. Ich muss raus hier. Einfach gehen. Einfach laufen. Ich jogge also so durch die verlassenen Straßen. Viele Autos oder Menschen sind im Moment nicht unterwegs. Kein Wunder. Fast alle liegen in ihren Betten und schlafen. So wie ich es tun sollte.

Ich habe mich auch ins Bett gelegt. Lou hat sich sogar an mich gekuschelt gehabt. Aber ich habe trotzdem nicht einschlafen können. Also bin ich wieder auf. Raus. Raus hier. Weg. Weg von allem. Auszeit. Ich brauche dringend eine Auszeit, aber mein momentanes Arbeitspensum lässt einfach keine Auszeit zu. Ich habe Unmengen zu tun und hinke meilenweit hinterher. Für mich wäre es am besten wenn ein Tag mindestens 48 Stunden hätte. Ich fühle mich müde. Müde und ausgelaugt, aber ich kann dennoch nicht schlafen. Sich müde zu fühlen ist bei mir mittlerweile zum Dauerzustand geworden. Ich seufze. Ich werde langsamer. Falle vom Laufen zurück in einen normalen Schritt. Ich gehe. Ich beobachte alles um mich herum. Sehe mir alles an. Man sieht keinen einzigen Stern am Himmel. Es ist wolkig. Ich seufze erneut. Das hier. All das hier. Mein Traum. Der Traum auf den ich jahrelang hingearbeitet habe. Teure Autos, schöne Wohnung, teure Geschenke für meine Mutter und meine Schwester, tolle Reisen. All das wollte ich immer. Vor allem die Welt entdecken. Reisen. Alles erkunden und kennen lernen. Aber ohne Kira hat es alles so viel weniger Bedeutung für mich. Sie war auch sehr reiseinteressiert. Sie wollte unbedingt nach Amerika. Aber auch Südafrika, Kanada, Australien und Japan waren ganz oben auf ihrer Liste. Ich kann mich noch erinnern wie oft wir darüber gelacht haben, als ich gesagt habe nach Australien muss sie mit einer Freundin fliegen, denn da gibt es zu viele, viel zu große, achtbeinige Monster. Also Spinnen. Sie hat immer darüber gelacht, mich aber wenns hart auf hart kam nie verspottet. Im Gegenteil. Sie ist gekommen und hat mir geholfen mich von dem Achtbeinigen Problem zu befreien.

Wir wollten so viel erleben. Aber damals hat das Geld auch einfach nicht gereicht. Ich war noch am Anfang meiner Karriere. Mit dem ersten größeren Gehalt, bin ich mit ihr nach Neapel gefahren. Mit dem Auto. Ich hab ihr alles gezeigt, was ich als Kind so geliebt habe. Und sie hat es mit mir geliebt. Auch wenn ich weiß, dass sie viele der Dinge dort nur um meinetwillen mochte. Sie hat es geliebt wenn sie mich zum Lächeln gebracht hat. Sie hat es geliebt wenn ich glücklich war. Umgekehrt ging es mir natürlich genauso. Wenn sie gelächelt hat, wurde mir warm ums Herz. In dem Jahr in dem sie starb, starb auch mein Lächeln. Es ist kaum zu glauben, dass es bereits 5 Jahre her ist. In meiner Brust fühlt es sich seither leer an. Immer noch. Wir wollten in diesem Jahr einen weiteren Ort auf unserer Liste hinzufügen. Ich habe mich umgehört, gespart und nach günstigen Angeboten gesucht. Wir wollten Ende Oktober nach Barcelona fliegen. Eine Stadt die ich mittlerweile sehr liebe. Die ich jedoch nie mit ihr besuchen konnte. Genauso wie Tokyo. Wann immer ich hier bin, muss ich daran denken, dass sie Japan unbedingt sehen wollte. Ganz unwillkürlich muss ich sie mir jedes Mal wenn wir etwas essen gehen, vorstellen. Mir vorstellen wie sie die Karte studieren würde. Aber so geht es mir nicht nur hier. So geht es mir überall. Auch in Berlin. Wenn ich in einem Lokal bin, in dem ich mit ihr war. Zum Beispiel bei unserem Lieblingsitaliener. Jedes Mal sehe ich sie vor mir. Wie sie die Karte studiert. Grübelt. Obwohl sie im Endeffekt ohnehin jedes Mal dasselbe gegessen hat. Deshalb gehe ich dort nicht mehr oft hin. Der Schmerz sitzt zu tief.

Raf Camora FF//  LouisianaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt