Engel

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POV Raphael: 

Ungefragt lässt er sich zu mir auf den Boden sinken. Es war eine Feststellung keine Frage dennoch nicke ich zu seiner Bemerkung. „Woher?", frage ich leise. Meine Stimme klingt brüchig. Mir kullern immer noch Tränen über die Wange. „Hab dich mit deiner Schwester telefonieren gehört" „Sind die anderen wach?" Er schüttelt den Kopf. Ein Glück. „Nein schlafen alle", gibt er zurück. Hu. Erleichterung durchströmt mich. Das würde ich jetzt am allerwenigsten gebrauchen können. Er sitzt eine Weile einfach nur schweigend neben mir. Lässt mich schluchzen, reicht mir Taschentücher. „Außerdem... es war offensichtlich dass es passieren wird" Ich sehe ihn an. „Echt?" „Na klar. Ich weiß nicht was genau Babsi dir alles gesagt hat. Ich bin nicht stehen geblieben um dich zu belauschen. Aber ich weiß schon seit Wochen, dass du Gefühle für Lou hast die du nicht zu lassen willst. Weil du noch immer denkst es wäre deine Schuld gewesen", sagt er. Ich nicke. „Es war auch meine Schuld" „War es nicht! Kapier es endlich Bruder! Es war nicht deine Schuld"

Ich seufze und wische mir eine Träne weg. „Ich kann das nicht Abudi. Am liebsten würde ich mich in den nächsten Flieger setzten und von hier verschwinden. Vielleicht tut es ihr dann weniger weh" KLATSCH. Das Geräusch seiner Hand auf meiner Wange ist leiser als sich der Schlag anfühlt. „AUA!", entfährt es mir und ich reibe mir die Wange. „Sorry Bruder aber manchmal hilft bei dir anscheinend nichts anderes. Komm jetzt mal zur Vernunft! Du wirst nicht abhauen und es macht einen Scheißdreck leichter für sie. Die Kleine ist hin und weg von dir. Egal wie scheiße du dich ihr gegenüber schon verhalten hast. Und es spielt auch keine Rolle dass du Sex mit ihr hattest. Sie war dir schon vorher hoffnungslos verfallen. Und weißt du eigentlich wie schrecklich dass mit anzusehen ist? Nein nicht, dass sie dir so hoffnungslos verfallen ist. Sondern folgendes. Raf du bist wie meine Familie. Du bist mein Freund. Mein Bruder. Und ich sehe jeden Tag wie sehr es dich zerstört. Ich sehe wie sehr dich dieser Zwiespalt zerstört. Du hast Gefühle für sie. Du bist verliebt in sie. Aber du willst es nicht zu lassen. Ich sehe jeden Tag wie du sie ansiehst. Wie du sie behandelst. Jeden Tag spüre ich wie wichtig sie für dich ist. Und gleichzeitig spüre ich jeden Tag den tiefen Schmerz in deinem Herzen. Den Schmerz und die Schuldgefühle." Er macht eine kurze Pause damit ich seine Worte verarbeiten kann. „Kira hätte nicht gewollt das du so lebst. Sie hätte nicht gewollt dass der Schmerz dich von innen heraus auffrisst und dich zu einem gefühlskalten Monster macht. Kira würde sich freuen, wenn sie sehen würde wie du dich wieder verliebst. Und vielleicht sieht sie das ja auch. Von da oben" Er deutet an die Decke.

Ich wische mir erneut eine Träne weg und folge seinem Blick nach oben. „Ich kann dich zu nichts zwingen Bruder. Ich kann dir in dem Fall auch nicht anders helfen, als dir immer und immer wieder zu sagen, lass es zu. Werde glücklich. Glücklich mit ihr. Weil du sie liebst. Aber glaub mir eins Bruder, ich werde es dir noch 1000-mal sagen wenn es nötig ist" Er erhebt sich vom Boden und zieht mich auf die Füße. „Jetzt leg dich erstmal ins Bett. Du bist verwirrt. Du bist müde. Du trauerst. Nach ein paar Stunden Schlaf sieht die Welt ganz anders aus. Und denk darüber nach was ich gesagt habe. Und was Barbara sicher auch gesagt hat", merkt er an und lässt mich kurz darauf alleine im Bad zurück. Er hat Recht. Ich brauche wirklich Schlaf. Ich fühle mich wie von einem Laster überfahren. Meine Augen sind rot und aufgequollen. Außerdem brennen sie. Ich habe solange geweint bis keine Tränen mehr übrig waren, so fühlt es sich zumindest an. Mein Magen rebelliert auch noch immer und mein Schädel dröhnt. Leise folge ich ihm aus dem Bad und schlüpfe unter die Decke zu Lou. Als würde sie meine Anwesenheit bemerken, dreht sie sich um und kuschelt sich ganz unbewusst im Schlaf an mich. Ich lege meinen Arm um sie und schaue noch einmal nach oben. Wie kann es sich so furchtbar falsch anfühlen jemanden zu lieben der so verdammt richtig ist?

Die Straße ist dunkel und leer. Es ist aber nicht besonders kalt. Eine sternenklare Sommernacht. Ich gehe nur mit T-Shirt und einer Hose begleitet spazieren. Ich trage nicht mal Schuhe. Ich weiß nicht wohin ich gehe. Ich gehe dorthin wo der Wind mich hintreibt. Ich habe kein Ziel. Laufe planlos durch die Nacht. Bis ich irgendwann an einem Fluss ankomme. Ich setze mich ans Ufer. Beobachte die Stadt hinter mir. Ein paar Lichter brennen. Ein paar Autos fahren. Die Kirchturmuhr zeigt kurz vor Mitternacht. Geisterstunde. Ich blicke aufs Wasser bin in Gedanken versunken. Ich höre die Kirchturmglocken. Sie schlagen Mitternacht. Ein kalter Windstoß lässt mich frösteln. Als ich aufblicke erstarre ich. Sie sitzt neben mir. Ich habe niemanden kommen gehört. Niemanden kommen gesehen. Aber jetzt sitzt sie auf einmal einfach so neben mir.

„Kira?" Ich sehe sie an. Sie hat sich nicht verändert. Sie sieht genauso aus wie immer. Wie... bevor das alles passiert ist. Sie trägt ihre wunderschönen Haare in einem lockeren Pferdeschwanz und sie trägt ihr weißes Nachthemd, das ich so an ihr Liebe. „Hallo Raphael", begrüßt sie mich. Auf ihrem Gesicht erscheint ein Lächeln. Nicht die Spur von Kummer zeichnet ihre Augen. Sie ist blass. Blass wie ein Geist. Ansonsten ist sie wie immer. „Kira was? Träume ich?", stammle ich verwirrt. Sie streichelt mir über die Wange. Es fühlt sich an wie ein Windhauch. „Ja wahrscheinlich träumst du gerade", erwidert sie. „Ich... ich bin verwirrt", stammle ich und versuche sie zu berühren doch meine Hände greifen durch sie hindurch. Mir wird bewusst. Sie IST ein Geist. „Du hast nach mir gerufen. Du hast mich gebraucht", flüstert sie leise und ihr Blick wandert nun auch über den Fluss.

„Ich brauche dich jeden Tag. Ich brauche dich jeden Tag so sehr. Aber du bist nicht mehr hier", stammle ich und spüre Tränen über meine Wangen laufen. „Leider. Manchen von uns ist es einfach früher bestimmt zu gehen" „Weil ich ein Idiot bin", gebe ich zurück. Sie schüttelt ihren Kopf. „Nein das bist du nicht. Es war Schicksal Raphael. Nicht deine Schuld. Und niemand außer dir selbst gibt dir daran die Schuld", sagt sie leise. „Das sagt Babsi auch immer zu mir", erwidere ich. „Ja weil es stimmt. Und auch Abudi sagt es dir. Deine Mutter sagt es dir. Meine Eltern sagen es dir.", sie zuckt die Schultern. „Warum kann ich dich hören, dich fühlen, dich sehen, dich aber nicht berühren?", frage ich. Sie zuckt die Schultern. „Weil es dein Traum ist Raphael. Manchmal träumst du von mir als ich noch lebendig war. Dann berührst du mich. Dann verarbeitest du Erinnerungen. Und jetzt? Jetzt träumst du von mir nachdem ich fort bin. Jetzt bist auf der Suche nach Antworten" Mein Kopf dröhnt. Wann ist träumen so kompliziert geworden?

„Du denkst an sie", sagt Kira leise und auf der Wasseroberfläche erscheint eine Spiegelung. Sie zeigt mich. Neben mir sitzt... nicht Kira. Es ist Lou. Lou sitzt neben mir und schaut mit mir aufs Wasser. „Ich... ja. Ich bin verwirrt", gestehe ich. Wieder spüre ich ihre Berührung an meiner Wange. „Ich weiß. Ich spüre dein Gefühlschaos", sagt sie leise. „Ich kann das nicht Kira" „Doch du kannst Raphael. Lass es zu" Ihr Bild beginnt zu verblassen. „Was ist los? Wieso gehst du?", frage ich. „Ich muss gehen Raphael. Ich muss zurück. Du musst aufwachen. Du musst zurück ins Leben" „Ich kann das nicht. Ich..." „Du liebst sie Raphael. Lass es zu. Ich will... ich will dich glücklich sehen" „Kira bleib hier..." „Lass es zu..."

Ich wache auf weil jemand heftig an meiner Schulter rüttelt. Als ich die Augen aufschlage blicken mich Abudi und Lou aus besorgten Augen an. „Raf was ist passiert?", fragt Lou besorgt und streichelt mir über die Wange. Ich bemerke erst, dass ich im Schlaf geweint habe als ich an mir hinunter blicke. „Ich weiß es nicht", lüge ich. „Du hast geweint und geschrien.", sagt Lou leise und nimmt meine Hand in ihre. Sie streichelt sie leicht. „Ich habe geträumt", stammle ich verwirrt. „Ist alles okay? Willst du darüber reden?", fragt sie. Ich schüttle den Kopf. „Es ist alles gut. Alles okay", sage ich leise. „Willst du ein Glas Wasser?", fragt sie mich. Wieder schüttle ich den Kopf. Mein Kopf dröhnt. In Gedanken höre ich immer noch Kiras Stimme. Ich bin... ich bin verwirrt. Ich blicke mich um. „Die anderen sind schon auf", erklärt Abudi mir als ich einen fragenden Blick in Richtung des leeren Bettes werfe. „Wie spät ist es? Wie lange habe ich geschlafen?", frage ich meinen Freund, denn Lou weiß ja nicht wann ich ins Bett gegangen bin. „6 Stunden Bruder", merkt Abudi an und ich reibe mir über die verschlafenen Augen. Lou drückt immer noch sanft meine Hand. Abudi nickt mir zu. „Ist alles gut?", fragt sie mich nochmal. Ich nicke. Ich erwidere ihren Händedruck und streichle ihr über die Wange. „Danke. Alles okay." Und zum ersten Mal seit einer Ewigkeit habe ich tatsächlich das Gefühl, das alles okay ist.... 

Raf Camora FF//  LouisianaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt